Andreas Reckwitz: „Das Ende der Illusion“

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Der Untertitel dieses Buches lautet: „Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ und bringt damit den Inhalt der fünf Beiträge in äußerst verdichteter Form auf den Punkt. Üblicherweise ist bei Sammlungsbänden eine gewisse Skepsis angebracht, weil sie oft inkohärente Themen aus verschiedenen Zeitabschnitten mit unterschiedlichen Problemstellungen in einem Buch zusammenbringen. Ganz anders jedoch Andreas Reckwitz: bei diesem Buch hat man das Gefühl, dass er die fünf Aufsätze „in einem Zug“ heruntergeschrieben hat, derart eng sind sie miteinander verzahnt und drehen sich konzentriert um das im Untertitel aufgeführte Thema. Alle beschreiben die Situation des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts aus der Perspektive des spätmodernen Westens. Diese Einschränkung erfolgt zwar nicht explizit, aber schält sich im Laufe der Lektüre heraus, da Reckwitz andere Kulturen und Regionen (China, Russland, Afrika) nicht explizit anführt und außerdem seine Erkenntnisse dort wohl auch nicht im selben Maße gelten dürften. Eine Untersuchung dieser Gesellschaften wäre eine andere Geschichte.

Reckwitz beleuchtet in jedem Beitrag einen anderen Aspekt seines Themas, wobei er einerseits auf Widerspruchsfreiheit achtet und andererseits die Komplementarität aller Einzelaspekte betont. Bei fortschreitender Lektüre drängen sich die Referenzen auf vorangehende Aufsätze geradezu auf, wenn er sie nicht sogar explizit anführt.

Übergreifend benennt Reckwitz bereits in der Einleitung zwei große Epochen: die „Industrielle Moderne“ von 1945 bis ca. 1970 mit ihren Merkmalen Rationalisierung und Technisierung, mit ihrem Fortschrittsglauben und ihrer kulturellen Homogenität, sowie die „Spätmoderne“ ab 1968 mit der Globalisierung, dem Verschwimmen der Wertebegriffe sowie mit der Mutation zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“ mit hohem Enttäuschungspotential.

Der erste Beitrag beschäftigt sich mit dem Unterschied der bestehenden Kulturbegriffe: der „Hyperkultur“ und dem „Kulturessenzialismus“. Erstere ist für ihn ein „Baukasten der Selbstverwirklichung“ der neuen Mittelklasse, erweitert deren Spielraum ins potentiell Grenzenlose und favorisiert Globalisierung und Individualismus. Letzterer etabliert einen Dualismus vom „Innenbereich“ einer (kulturellen) Gruppe und dem entsprechenden „Außenbereich“, stärkt die Innenbindung durch entschiedene Ablehnung des „Außen“ und ist als Gegenreaktion auf die Hyperkultur zu sehen. Als Beispiel nennt er den religiösen Fundamentalismus sowie identitäre rechte Bewegungen. Der scheinbar progressive Liberalismus der Hyperkultur weist für ihn die Schwächen fehlender Gemeinsamkeit und verbindlicher Werte auf. Eine „Kultur des Allgemeinen“ könnte hier eine Lösung anbieten, müsste jedoch mühsam erarbeitet werden.

Den zweiten Aufsatz über die neue „Drei-Klassen“-Gesellschaft hätte man vielleicht besser an den Anfang gestellt, weil dann das Enstehen der beiden Kulturausprägungen sich zwangsläufig ergeben hätte. Mit aufwändigem Datenmaterial erläutert Reckwitz die Umgestaltung der weitgehend nivellierten industriellen Gesellschaft mit ihren hierarchisch klar gegliederten Schichten aus Unternehmern, Angestellten und Arbeitern in eine völlig neue Struktur. Die „alte“ Mittelklasse zeichnete sich durch ein klares Bekenntnis zu Werten des Allgemeinwohls wie Disziplin, Leistung und Verzicht aus und war lebenslang in die industrielle (oder staatliche) Struktur eingebunden. Die neue Mittelklasse der Wissensökonomie zeichnet sich jedoch durch Akademisierung, individuelle Selbstentfaltung, Liberalismus und Skepsis aus und treibt damit die „Singularisierung“ und „Valorisierung“ des (eigenen) Lebenslaufs voran. Paradoxerweise hat gerade die Bildungsexpansion diese sich von der alten Mittelklasse abgrenzende Klasse geschaffen. Dass damit Abwertungsgefühle eben jener alten Mittelklasse einhergehen, versteht sich von selbst, und diesen Gefühlen entspricht die Selbstaufwertung der neuen Mittelklasse. Als dritte Klasse hat sich die „prekäre Klasse“ oder „service class“ entwickelt, die jedoch im Gegensatz zur alten Arbeiterklasse („Proletarier“) keine organisierte Gemeinschaft mehr bildet. Hier sammeln sich die Unterqualifizierten und Abgehängten, die im Bildungswettrennen nicht mithalten können oder wollen. Links und rechts spielen in dieser neuen Struktur laut Reckwitz eine untergeordnete oder gar invertierte Rolle, gehören doch viele „Linke“ zur „neuen Mittelklasse“, worauf sich vor allem die „prekäre Klasse“ enttäuscht dem rechten Populismus zuwendet.

Reckwitz weiß um die Brisanz einer solchen strukturellen Umdeutung und belegt seine Ausführungen mit detaillierten statistischen Daten aus verschiedenen westlichen Ländern, die seinen Thesen Gewicht und einige Beweiskraft verleihen. Hier zeigt sich auch die starke innere Bindung der einzelnen Aufsätze, in diesem Falle die Übereinstimmung mit dem ersten Aufsatz.

Der dritte Aufsatz mit dem Titel „Polarisierter Postindustrialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus“ beschreibt die ökonomischen Ursachen der neuen Struktur. Der „Fordismus“ des frühen 20. Jahrhunderts mit seiner extremen Arbeitsteilung hatte Massenproduktion und -konsum hervorgebracht. Mit der steigenden Automatisierung ging die Zahl der Beschäftigten in der Industrie langsam, aber stetig zurück. Das führte zu einer Polarisierung zwischen qualifizierten und unqualifizierten Schichten. In den siebziger Jahren schließlich war eine ökonomische Sättigungsphase hinsichtlich der Basisversorgung eingetreten, die laut Reckwitz die Schaffung neuer Produkte, d.h. neuer Nachfrage erforderte. Daraus entstanden zunehmend Produkte mit „symbolischem“ Wert, die dem Käufer sozialen Wert versprachen: modische Kleidung, exotisches Essen, ausgefallene Veranstaltungen und teure Accessoires. Damit entwickelte sich eine „Ökonomisierung“ – nicht zu verwechseln mit der platten „Kommerzialisierung“ – des Sozialen. Globalisierung, Neoliberalismus (den Reckwitz nie polemisch, sondern stets nüchtern-sachlich anführt) und Finanzialisierung, d.h. die „Bepreisung“ symbolischer Güter, taten ein Übriges, um diesen Prozess zu beschleunigen.

Der „kognitive Kapitalismus“ geht mit dieser Entwicklung synchron, indem er die Wertigkeit der Güter zunehmend auf (technologischem) Wissen gründet, Stichworte: Computer und Kommunikation. Daraus entwickelte sich in Kürze die Wissensgesellschaft, die den Wert körperlicher Routinearbeit dramatisch reduzierte und damit größere gesellschaftliche Gruppen in prekäre Verhältnisse abzusenken drohte. Der Zusatz „kulturell“ bezieht sich auf die zunehmende Zahl ökonomisch relevanter Güter mit ethischem (Bio-Nahrung), ästhetischem (Kunst) oder narrativem (Wohnlage, Schulen) Wert.

Im vierten Aufsatz weist Reckwitz nach, dass nicht alle Träume der neuen Mittelklasse reifen (können), womit sich ein signifikantes „Enttäuschungspotential“ aufbaut. Die Individualisierung und „singuläre“ Selbstentfaltung dieser Klasse bringen einen kulturellen Zwang zu positiven Emotionen mit sich, denn die (erfolgreiche) Entfaltung des individuellen Lebensstils soll sich auch im eigenen Auftreten manifestieren. Dieser Zwang führt dann auf fast paradoxe Weise zu negativen Emotionen. Da die Selbstentfaltung immer auch sozialen Erfolg impliziert, kommt es nach Reckwitz zu dem Paradox sich gegenseitig ausschließender Güter. Die freie Entfaltung des Einzelnen ohne Rücksicht auf die Anforderungen der Allgemeinheit (Wirtschaft) birgt die Gefahr des sozialen Abstiegs. Damit ist die gleichzeitige Erfüllung der individuellen Entfaltung hinsichtlich der sozialen Anerkennung, z.B. in Gestalt bevorzugter Wohngegend, nicht mehr möglich. Die „Singularität“ führt zu sich gegenseitig ausschließenden sozialen Gütern und damit zu Frustration. Das Internet brachte weitere mögliche Enttäuschungen mit sich, da sich die Vergleichsbasis mit anderen die Selbstentfaltung anstrebenden Individuen vom Lokalen ins Globale ausdehnte. Das dem Internet wegen der ubiquitären Erreichbarkeit inhärente „The winner takes all“-Phänomen führt weiterhin dazu, dass nur wenige im erhofften Sinn profitieren, die meisten jedoch leer ausgehen. Das Beispiel der „Influencer(innen)“ zeigt dies in exemplarischer Form.

Erstaunlich jedoch, dass Reckwitz ein anderes Enttäuschungspotential nicht anführt. Individuelle „Singularität“ ist stets mit dem Wunsch nach einer sozialen „Distinktion“ von der Mehrheit verbunden. Dieser auf einem intuitiven Wertgefühl beruhende Wunsch wird von der alten und der prekären Mittelklasse in Gestalt von Ressentiment und Neid erfüllt, muss jedoch innerhalb der neuen Mittelklasse unerfüllt bleiben, da hier jeder nach Distinktion bei gleichzeitigem Fehlen eines akzeptierten hierarchischen Wertegefüges strebt. Da die Singularität des Nachbarn im Gegensatz zu alten sozialen Wertsystemen (Auto, Haus, Urlaub) keinen allgemein gültigen sozialen Wert besitzt, funktioniert die Distinktion innerhalb der neuen Mittelklasse nicht. Hier gilt wirklich: jeder ist sich selbst der Nächste, und Anerkennung wird angestrebt aber nicht ausgesprochen. Auch die Übernahme von „Singularitäts-Moden“ hilft wegen deren inhärenter Kurzlebigkeit wenig. Das führt zwangsläufig zu Enttäuschung und Frustration.

Der letzte Aufsatz untersucht die Krise des Liberalismus und sucht nach möglichen Auswegen. Reckwitz unterscheidet zwischen zwei ökonomischen Paradigmen, die man sowohl bei linken („progressiven“) als auch bei konservativen Regierungen findet: das „Regulierungsparadigma“ mit seiner feinmaschigen Ordnung und das „Dynamisierungsparadigma“ mit seiner Öffnung der Märkte. Er weist außerdem nach, dass sich diese Paradigmen in der Vergangenheit (des 20. Jahrhunderts) gegenseitig ablösten, um die massiv auftretenden Mängel des jeweils vorhergehenden Paradigmas zu beheben. Dabei verteilten sich die beiden Paradigmen gleichmäßig auf beide politische Lager. Zum Beispiel öffnete Margaret Thatcher die Märkte mit konservativer Stoßrichtung, während die rot-grüne Regierung in Deutschland die Globalisierung aus linker Grundhaltung vorantrieb. Derzeit sieht Reckwitz die westliche Welt im Griff eines „apertistischen Liberalismus“, der zu inakzeptabler sozialer Ungleichheit führt. Daneben werden öffentliche Dienste und Infrastruktur vernachlässigt. Das dritte Krisenmerkmal schließlich sind die Parallelgesellschaften einer ungesteuerten, über die multikulturelle Ideologie des Linksliberalismus geförderten Migrationspolitik.

Als Alternative sieht Reckwitz – natürlich – kein neues Regulationsparadigma, etwa im Sinne der deutschen Linken, sondern einen „einbettenden Liberalismus“, der die Freiheit des Individuums so wenig wie möglich einschränkt und dennoch die soziale Gerechtigkeit und die allgemeinen Aufgaben wieder angemessen berücksichtigt. Den in allen westlichen Ländern aufgekommenen Populismus sieht Reckwitz als Folge dieser drei Krisensymptome des „apertistischen Liberalismus“, er warnt jedoch davor, diesem – wenn auch teilweise verständlichen – Populismus nachzugeben, weil es damit zu einer gefährlichen Regierung des „Volkswillens“ kommen könnte, den die jeweilige Exekutive je nach Bedarf für sich reklamieren darf, siehe Ungarn und Polen. Der „einbettende Liberalismus“ ist für Reckwitz möglich, verlangt jedoch viel politisches Fingerspitzengefühl und laufende (Selbst-)Überprüfung durch die Politik. Doch Reckwitz ist kein Pessimist und sieht die derzeitige Krise als eine normale in der Geschichte der ökonomisch-politischen Geschichte. Für ihn ist sie wie viele andere Krisen auch mit Abstrichen lösbar.

Das Buch ist im der Reihe „edition Suhrkamp“ beim Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 306 Seiten und kostet 18 Euro.

Frank Raudszus

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