Lutz Seiler: „Stern 111“

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Carl, ein junger Mann Anfang zwanzig, macht sich auf den Weg zu seinen Eltern nach Gera. Sie haben ihm ein Telegramm geschickt, in dem sie ihm mitteilen, seine Hilfe zu benötigen. Es ist der 10. November 1989. Die Mauer, die Deutschland teilte, ist gefallen. Die Ostdeutschen können endlich in den Westen reisen.

Carl lebt in Leipzig. Er vermisst seine Eltern zwar, hat sie aber im vergangenen Jahr nur einmal besucht. Trotzdem sind die Eltern für ihn ein sicherer Hafen, unanfechtbar , und in der Not kann man immer zu ihnen zurückkehren. Diese Gewissheit trägt er zwar in sich, hatte aber bisher keinen Bedarf nach ihrer Nähe oder gar Fürsorge.

Carls Eltern wollen der nun schon fast ehemaligen DDR den Rücken kehren. beide haben Wanderrucksäcke gepackt, und Carl soll sie in den Westen fahren. Er selbst soll sich in Gera um die elterliche Wohnung und den Shiguli kümmern. Es kommt ihm allerdings komisch vor, dass ausgerechnet die Eltern zu neuen Ufern aufbrechen und er im Osten die Stellung halten soll. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Doch diesen Gedanken verfolgt er nicht weiter.

Carl hält es nicht lange in Gera in der elterlichen Wohnung aus und bricht schon bald mit Vaters Shiguli nach Berlin auf. Dort trifft er auf das sogenannte „Rudel“, eine Kollektion von Freaks, die Häuser in Mitte und im Prenzlauer Berg besetzen und einigermaßen bewohnbar machen. Carl ist gelernter Maurer und wird deshalb gerne in die Gruppe aufgenommen. „Hoffie der Hirte“ ist der Anführer des Rudels und besitzt eine Ziege, deren Milch man bei Krankheit gerne trinkt.

Das Rudel klaut Werkzeug und Baumaterial, um es für eigene Projekte zu verwenden. Das wird natürlich politisch und ideologisch überhöht zur „Sabotage an den Brutstätten des Kapitals bei gleichzeitiger Umverteilung“. So entsteht als Gemeinschaftsprojekt die „Assel“, eine Kellerkneipe in einem Abbruchhaus, in der sich Prostituierte und russische Soldaten treffen. Carl arbeitet dort als Kellner und verdient sich so seinen Lebensunterhalt. Er fühlt sich in der Gruppe akzeptiert, und irgendwann entsteht bei ihm der Wunsch, Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben.

Als er schließlich seine Jugendliebe Effi wiedertrifft, die künstlerisch tätig ist, hofft er auf eine kreative Zweierbeziehung. Doch ihm fehlt ein Plan für das Leben. Er lässt sich treiben, dümpelt durch Tage, Wochen und Monate, ohne dass er so richtig weiß, wohin es gehen soll. Seine Eltern dagegen, die fluchtartig die DDR verlassen haben, lernen den Westen, die „Wessies“ und diverse Jobs kennen. Sie sammeln Erfahrungen und sparen ihr Geld, um sich ihren großen Traum zu erfüllen: nach Hollywood zu reisen und in die Fußstapfen des Rock´n Roll-Idols Bill Haley zu treten. Carls Vater Walter besitzt ein Akkordeon und möchte in einer Band in Kalifornien mitspielen.

Seilers Roman „Stern 111“ beschreibt einerseits das langsame Erwachsenwerden des jungen Carl und andererseits den Befreiungsschlag und die Traumerfüllung seiner Eltern. Während man als Leser immer wieder gespannt auf die neuen Entwicklungen im Leben der Eltern ist, ermüdet man bei der mehrere hundert Seiten umfassenden Beschreibung von Carls Leben doch ein wenig. Hier wird die Ziellosigkeit und das Abhängen in der Hausbesetzer-Szene in epischer Breite erzählt, ohne dass sich in Carls Leben groß etwas ändert. Das erfordert Durchhaltevermögen beim Leser. Carl wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen und muss so seinen ganz eigenen Weg – auch in der Einsamkeit -gehen. Aber dem Leser wird dabei auch klar, welch langwieriger Prozess vor einem Leben als Schriftsteller steht.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 522 Seiten und kostet 24 Euro.

Barbara Raudszus

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