Ivan Krastev: „Ist heute schon morgen?“

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Wir haben den bulgarischen, in Wien tätigen Philosophen Ivan Krastev in unserem Blog bereits mit seinem Buch „Das Licht, das erlosch“ vorgestellt, in dem er die geopolitische Entwicklung seit der „Wende“ mit ihren vor allem für die westlichen Demokratien kritischen Folgen analysiert. Jetzt hat er sich – nahe liegend! – Gedanken über Entwicklung und potentielle Folgen der weltweiten Corona-Krise gemacht und sie in dem vorliegenden kleinen Band zusammengefasst.

Als Politikwissenschaftler analysiert man aufkommende Krisen üblicherweise und aus guten Gründen erst, wenn sich der „Pulverdampf“ der hitzigen Diskussionen gelegt hat und ausreichend Erkenntnisse sowie Datenmaterial vorliegen. Doch die vertwitterte Welt verlangt heutzutage nach sofortigen Kommentaren, und die Medien – unter anderen die Verlage – geben diesem Druck gerne nach. Als Folge erscheinen Publikationen mit wenig neuen Erkenntnissen und stattdessen griffig formulierten Gemeinplätzen auf dem Markt. Da Gemeinplätze von seriösen Wissenschaftlern meist besser klingen als die der üblichen – populistischen – Verdächtigen, werden sie als solche oft nicht erkannt und wegen des Autoren-Renommés gerne einem höheren Niveaufach zugeordnet.

In gewisser Weise gilt dies auch für das vorliegende Buch von Ivan Krastev. Seine „Erkenntnisse“ sind durchaus nicht falsch oder gar politisch inkorrekt, aber sie sind auch nicht neu oder gar bahnbrechend und kommen obendrein oft nur als vermeintlich selbstverständliche – aber eben nicht belegte! – Tatsachen daher. So sagt er zu Beginn, dass wir die „Zukunft der Gegenwart“ nicht kennen und die „Zukunft der Vergangenheit“ bereits gelebt haben – oder es gerade tun. Hört sich gut an, ist aber im Grunde genommen banal. Später bringt er den markigen Satz, dass Europa „die Touristen anziehen und die Migranten abweisen“ möchte. Stimmt, ist aber ebenfalls keine neue Erkenntnis – nur gut formuliert. Später formuliert er einen durchaus treffenden Satz, nämlich, dass die Europäer den einzig nützlichen Protektionismus im eigenen Zusammenhalt finden werden. In der Sache trifft das zu, nur ob die Europäer das wirklich (rechtzeitig) merken werden, ist nicht sicher. Für die USA weist er darauf hin, dass bei den gegenüber Corona anfälligen „Vorerkrankungen“ auch(sic!) eine Rolle spiele, ob man arm oder schwarz ist. Richtig, jedoch stützt gerade das „auch“ nicht die unterschwellige Aussage, dass gerade die Armen und Schwarzen getroffen seien.

Im Weiteren unterstellt er – durchaus nachvollziehbar -, dass die Regierungen in Krisenzeiten andere, vermeintlich erfolgreichere Regierungen nachahmen. Das klingt zwar logisch, doch fehlt der Nachweis im Detail. Es könnte immer auch ganz anders sein. Danach skizziert er die Theorie, dass der Bürger in der Angst vor der unbekannten Gefahr (Corona!) nach einem starken Staat ruft, jedoch bei einer diffusen Sorge um die Zukunft (Klima, Wirtschaft) in Frustration und Wut gegenüber der (inkompetenten) Regierung verfällt. Klingt ebenfalls einleuchtend, ist aber in der harten Abgrenzung der Fälle erstens schematisch und zweitens wissenschaftlich nicht belegt (jedenfalls in diesem Buch).

Diese Beispiele sollen nur zeigen, mit welch heißer Nadel und welchem „Bauchgefühl“ Krastev dieses Buch verfasst hat, ein Wissenschaftler, der bewiesen hat, dass er logisch und folgerichtig argumentieren kann. Wohlgemerkt, all die erwähnten (und andere) Aussagen sind nicht falsch oder gar tendenziös, sie sind aber auch durch nichts belegt und damit mehr oder minder Vermutungen. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte mit seinen Ausführungen zur Corona-Krise noch ein Vierteljahr (oder sogar länger!) gewartet.

Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 90 Seiten und kostet 8 Euro.

Frank Raudszus

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