Die große Selbstbespiegelung

Print Friendly, PDF & Email

Tschechows „Drei Schwester“ gehören zum unveräußerbaren Repertoire eines jeden Theaters, und so nimmt es Wunder, dass es in Darmstadt zum letzten Mal vor siebzehn Jahren inszeniert wurde. Jetzt hat sich die Regisseurin Katja Plötner dieses „ur-russischen“ Stoffes wieder angenommen und ihn unter Corona-Bedingungen im Kleinen Haus inszeniert.

Ensemble

Das Bühnenbild von Camilla Hägebarth besteht aus einer leeren Spielfläche mit gelbem Belag und einer überdimensionierten Spiegeldecke, die sich schräg von hinten nach vorne über die Bühne erhebt. Der metaphorische Verweis auf die Selbstbespiegelung der Akteure ist unübersehbar.

Plötner hat das Stück konsequent auf zwei Stunden gekürzt und verzichtet – wegen Corona – ganz auf eine Pause. Die Handlung fasst sie auch zeitlich insofern zusammen, als der Jahresabstand zwischen den aufeinanderfolgenden Akten nicht mehr explizit erwähnt wird. Dies ergibt sich zwingend aus der nahtlosen Abfolge der Szenen und Akte. Als unbedarfter Zuschauer kann man annehmen, dass sich die gesamte Handlung an Irinas Geburtstag abspielt. Die prinzipielle „Handlungslosigkeit“ dieses Stücks ermöglicht diese Interpretation ohne größere Regieumbauten. Ob Stunden oder Monate zwischen zwei Szenen vergehen, spielt keine Rolle, da sich die Situation nicht grundlegend verändert.

Plötner verzichtet auch auf jegliche Historisierung und lässt die Figuren in heutiger Kleidung auftreten, wobei die Uniformen der Offiziere lediglich durch identische Sportjacken mit Streifen angedeutet werden. Der militärische Hintergrund der drei Männer erschließt sich ausschließlich aus dem Text. Nur die Amme Anfissa (Karin Klein) wird in ihrem schwarzem Dienstbotenkleid bewusst als Mitglied einer anderen Schicht ausgewiesen.

Edda Wiersch, Antonia Labs,
Mathias Znedarec, Marielle
Layher, Victor Tahal

Der Verzicht auf jegliche Requisiten hinsichtlich Wohnambiente hat von vornherein eine deutliche Distanz zum Geschehen zur Folge. Die historische oder geographische Zuordnung ist beliebig und zielt nicht mehr auf das Russland Tschechows mit seinen abgelegenen Provinzstädten und dem ereignislosen Leben ihnen. Man könnte die Leere (der Bühne und) des Lebens auch als Verweis auf die Corona-Pandemie deuten, die dem Leben abrupt sämtliche Dynamik genommen hat und die Menschen in ihre Häuser und die Langeweile verbannt hat. Insofern ist die Aktualität dieser Inszenierung auch ohne jegliche Plakativität von der ersten Szene an spürbar. Doch die Regisseurin hält ihr Publikum glücklicherweise für intelligent genug, um auf jegliche mehr oder weniger originelle Bezüge auf die Pandemie zu verzichte. Die Situation in dem Haus der Schwestern spricht für sich.

Die drei Schwestern Olga (Antonia Labs), Mascha (Marielle Layher) und Irina (Edda Wiersch) kennzeichnet die Kostümbildnerin Johanna Hlawica mit charakeristischen Kostümen: Die frustrierte Lehrerin Olga trägt ein blasses Kostüm, wie es das Stereotyp der langweiligen Lehrerin vorsieht, Mascha lebt ihre Frustrationen über den spießigen Lehrer- Ehemann Kulygin (Robert Lang) in einem Farbigen Phantasiekostüm aus, und die idealistische Irina tritt in einer so flotten wie roten Hose auf. Die Männer begnügen sich mit Allerweltskleidung.

Ensemble

Plötner verdichtet die in der letzten Darmstädter Inszenierung noch drei Stunden in Anspruch nehmende Handlung auf zwei Stunden und erreicht dadurch auch ein höheres Tempo, ohne die psychische Grundstituation deswegen zu zu gefährden. Die Lebenslügen der drei Schwester kommen auch hier deutlich zum Ausdruck. Die Schwester haben zu lange von der Bedeutung des Vaters gelebt und immer auf einen „deus ex machina“ gehofft, der sie aus dem unverschuldeten Exil in der Provinz erlöst. Sowohl Tschechow als auch die Regisseurin verzichten aber darauf, den Frauen die Schuld für ihre Lebenssituation selbst zuzuschreiben, denn schließlich hatten Frauen damals nicht die Möglichkeiten wie heute, auch wenn sie studieren konnten. Auch Plötner beschreibt nur die Erstarrung der Seelen, die aus ihrem – am Anfang noch goldenen – Käfig nicht ausbrechen können. Es ist mehr als Langeweile, was sie quält, aber dennoch veranschaulicht diese Inszenierung die seelische Qual der drei Frauen gerade durch extreme Zeichen der Langeweile. Wie Kleinkinder, die nichts mit sich anzufangen wissen, räkeln sich die drei auf dem Boden, liegen apathisch herum oder strampeln auch mal demonstrativ mit den Beinen. Ein hilf- und lautloser Protest gegen das Eingesperrtsein in unerträglichen Konventionen. Von Zeit zu Zeit bricht der Zorn dann doch auch akustisch aus ihnen heraus.

Dazu schwebt immer Natascha (Katharina Knap), Andrejs Frau, im kitschigen Kleidchen und unter Hymnen über ihr Kind um die Gesellschaft herum, und niemand, vor allem nicht die Schwestern, bemerken, wie sie sich scheinbar unschuldig des ganzen Hauses bemächtigt. Doch Nataschas Wirken wird hier nur nebenbei erwähnt, wenn auch mit stetig sich steigernder Wirkung. Der Schwerpunkt der Inszenierung und des Denkens der drei Schwestern sind sie selbst und ihr Unglück. Vor allem Olga und Mascha bespiegeln sich selbst – und die große Spiegelwand hilft ihnen dabei.

Marielle Layher,
Edda Wiersch,
Antonia Labs

Am Ende kippt die Regie die Spiegelwand nach hinten, und jetzt sind die Protagonisten plötzlich mit der Realität allein. Wie bei einem Tribunal sitzen sie alle aufgereiht an der Rampe und müssen Farbe bekennen. alle Illusionen sind zerstört: der Oberst (Daniel Scholz) lässt seine Geliebte Mascha und die ihn ebenfalls heimlich liebende Olga nach dem Abzug der Brigade allein zurück; der junge Leutnant (Mathias Znedarec), den Irina trotz fehlender Liebe heiraten wollte, fällt im Duell. So wird sie als einzige aufbrechen und ihren Wunsch zu arbeiten Realität werden lassen. Irina ist der Hoffnungsschimmer, weil sie sich nicht der Erstarrung der Verhältnisse in der Provinz fügt, sondern etwas wagt. Ob es gelingen wird, bleibt dahingestellt, dagegen weiß man, dass Natascha künftig das Regiment im Hause ihres Mannes Andrej (Hans-Christian Hegewald) führen wird, das ehemals die drei Schwestern beherrschten.

Katrin Plötner hat mit dieser verdichteten Inszenierung dem klassischen Stück noch einmal einige neue Bedeutungen entlockt und einen impliziten Bezug zur Gegenwart geschaffen. Abgesehen von der aktuellen (und akuten!) Corona-Erstarrung zeigt sie auch die zunehmende Ziellosigkeit und Beziehungslosigkeit in einer sich rasant wandelnden Welt, die nichts mehr für gewiss hält und viele persönlichen wie gesellschaftlichen Werte in Frage stellt. Das führt dann zu der Distanz, die auf der Bühne zwar Corona geschuldet ist, aber die Situation fast schon plakativ widerspiegelt. Womit wir wieder beim Spiegel wären.

Wenn Katrin Plötner die drei Schwestern dann in der letzten Szene vor einem gleißenden Lichtblitz an der Bühnenrückwand wie tot umfallen lässt, wirkt das wie ein letztes Rätsel der Regie. Vielleicht ist es die plötzliche Erkenntnis der nackten Realität, die den drei Frauen den Lebensnerv raubt.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar