Jeanine Cummins: „American Dirt“

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Seit Donald Trump seinen Wählern die Abschottung des Landes vor illegalen mittelamerikanischen Migranten durch eine Mauer versprochen hat, ist die Lage dieser Migranten stärker in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt. Bis dahin fristeten die Berichte darüber eher ein Schattendasein in der jeweils lokalen Presse der USA und Mexikos.

Lydia, die „Heldin“ dieses Migrantenromans, lebt mit ihrem Mann Sebastian und ihrem achtjährigem Sohn Luca in Acapulco. Bei einem Familienfest im Haus ihrer Mutter wird die gesamte Familie außer ihr und Luca von einem Killertrupp eines Rauschgiftkartells niedergemetzelt. Sie weiß sofort, wer dahinter steckt: der Chef des regionalen Rauschgiftkartells, der auch lange Zeit geschätzter Gast ihres kleinen aber feinen Buchladens war, bis Lydia von ihrem Mann, einem Journalisten, von seiner wahren Existenz erfuhr. Der Mordanschlag ist als Rache auf einen investigativen Artikels Sebastians zu verstehen.

Lydia weiß um den Zufall ihres Überlebens und ist sich darüber im Klaren, dass sie sofort verschwinden müssen. Mit wenig Habseligkeiten und etwas zusammengerafftem Bargeld verschwinden sie Richtung „El Norte“, dem umgangssprachlichen mexikanischen Synonym für die USA. Doch bis dahin sind es über 2.500 Kilometer, und sie sind noch nicht mal aus dem von dem Kartell überwachten Acapulco heraus. Über einen Freund ihres Mannes schaffen sie den Weg an den Straßenkontrollen des Kartells vorbei nach Mexiko City, wo sie sich für die lange Reise auf den Waggondächern der „la bestia“ genannten Güterzüge nach Norden eindecken.

Spätestens in Mexiko City beginnt eine Leidenstour durch die nördlichen Bundesstaaten Mexikos, die ihresgleichen sucht. Die Prophezeiung eines Priesters in einem Migrantenheim, sie würden – wenn überhaupt – die USA nur vollständig ausgeraubt erreichen, erfüllt sich auf vielfältige Weise. So holen korrupte mexikanische Polizisten sie vom Zug herunter und lassen sie nur gegen hohe Geldsummen weiterreisen. Wer kein Geld hat, dessen Schicksal ist angesichts der Brutalität der Polizisten, die wie selbstverständlich zwei junge Mädchen vergewaltigen, mehr als zweifelhaft.

Lydia und ihrem Sohn gelingt es jedoch mit Glück und wegen ihrer Geldreserven, nach drei Wochen die Grenze zu den USA zu erreichen, Auf dieser Fahrt treffen sie Migranten aus ganz Mittelamerika, wobei die desolaten gesellschaftlichen Zustände in Honduras und den benachbarten Staaten nicht nur deutlich zur Sprache kommen, sondern auch die Flucht nach Norden als einzige Überlebenschance erscheinen lassen. Die beiden erwähnten Mädchen – eben aus Honduras – bilden mit Lydia und Luca eine Schicksalsgemeinschaft und helfen sich gegenseitig, wo es geht. Ein junger Mann, der sich von dem Kartell gelöst hat und deshalb ebenfalls fliehen muss, entpuppt sich später als Verräter.

Die härteste Phase der Flucht besteht in einem dreitägigen Marsch durch die Wüste von Arizona, da ein offizieller Grenzübertritt – nicht zuletzt wegen Trumps Politik – nicht in Frage kommt. Auch der Tod schlägt auf diesem Marsch durch tägliche Hitze und nächtliche Kälte zu und stellt die Gruppe auf existenzielle Proben.

Jeanine Cummins verzichtet auf politische Anklagen gegen die mexikanische oder gar die US-Regierung. Die geschilderten Zustände sprechen für sich: in Mexiko und in anderen mittelamerikanischen Staaten gibt es keinen funktionierenden Rechtsstaat, die Polizei steht zur Hälfte auf der Lohnliste der Kartelle, und von den herrschenden Regierungen ist nichts Besseres zu erwarten. Die Kartelle beherrschen das Land, sperren nach Belieben Straßen und kidnappen oder töten alle Gegner, die ihrem Treiben nicht tatenlos zusehen wollen.

In diesem Roman finden die durch Mexiko ziehenden Migranten eine Resonanzkammer für ihre Ängste, ihr Leid und ihre Hoffnungen. Der Hoffnungsschimmer für die Protagonisten am Ende des Romans auf eine bessere Zukunft verbreitet ein wenig Trost, mindert dabei jedoch in keiner Weise die Kritik an den Zuständen in den vom Drogenkrieg zerrissenen mittelamerikanischen Ländern. Unabhängig von Donald Trumps unmenschlichen Aktivitäten in der Migrationsfrage kann natürlich die „Entleerung“ Mittelamerikas in die USA keine Lösung sein, sondern das Problem muss dort politisch entschieden angegangen werden. Doch das ist nicht das Thema dieses Buches.

Das Hörbuch wird von Vera Teltz mit viel Einfühlungsvermögen in die psychische Situation vor allem der Frauen und Kinder gelesen. Dabei behält sie trotz aller Empathie für die Hauptpersonen auch einen Sinn für die dramatische Spannung, die bis zum Schluss anhält.

Das Hörbuch ist bei „Der Audio Verlag“ erschienen, umfasst drei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 12 Stunden und 39 Minuten und kostet 14,85 Euro.

Frank Raudszus

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