Haruki Murakami: „Die Chroniken des Aufziehvogels“

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Haruki Murakami, dessen Bücher wir hier schon des Öfteren besprochen haben, ist für seine mehrdeutigen Romane bekannt, die meist mit dem Topos der „anderen“ Welt spielen. Diese Zweitwelt kann man eierseits als dass Unbewusste des Menschen deuten, andererseits jedoch auch als die „reale“ Vision eines zweiten Universums, das dieselben Personen in anderen Konstellationen und Befindlichkeiten beinhaltet. Der Autor klärt diese Ambiguität bewusst nie und überlässt die Interpretation damit weitgehend den Lesern.

Der vorliegende Roman erschien in Japan bereits im Jahr 1984 und auf Deutsch eineinhalb Jahrzehnte später. Das deutsche Hörbuch dagegen ist neuesten Datums. Das mag die bisweilen etwas anachronistisch anmutende Geschichte – keine Mobilfunktelefone! – erklären.

Der Protagonist Okada ist um die dreißig und arbeitslos, nachdem er eine unbefriedigende Stelle in einer Anwaltskanzlei gekündigt hat. Seine Frau Komiko verdient das gemeinsame Geld in einem Verlag. Ein Kater teilt die kleine Wohnung in einer guten Gegend von Tokio mit ihnen.

Als dieser Kater plötzlich verschwindet, empfiehlt man den beiden eine Frau mit Wahrsagerfähigkeiten, die jedoch neben ihrem etwas altertümlichen Aussehen vor allem durch ihre sybillinischen Aussagen auffällt. Des Weiteren ist da noch Komikos ungeliebter Bruder, ein Wissenschaftler mit politischen Ambitionen und einem schillernden Charakter, den mit Okada eine gegenseitige Abneigung verbindet. In der Nachbarschaft lebt die junge Mei, die aus unerfindlichen Gründen nicht die Schule besucht und mit Okada eine so unverbindliche wie erfrischende Bekanntschaft pflegt.

In diesem Setting werden bereits verschiedene Personen vorgestellt, die sich alle durch seltsame Wesenszüge auszeichnen und beim Zuhörer das unbestimmte Gefühl einer anderen Sphäre wecken. Dieses Gefühl verstärkt sich schlagartig, als Komiko eines Tages nicht mehr nach Hause zurückkehrt und ihrem Mann nach einiger Zeit der Irrungen mitteilt, dass sie eine heftige Beziehung zu einem anderen Mann gehabt habe und jetzt – aus Scham? – nicht mehr zu ihm zurückkehren könne. Da sie jedoch den persönlichen Kontakt scheut und die Kommunikation schließlich nur über ihren Bruder erfolgt, misstraut Okada der Situation und geht den Dingen auf eigene Faust nach.

In einer Parallelhandlung erzählt ein Kriegsveteran die Geschichte eines äußerst grausamen Kriegsgeschehens, die mit seinem Beinahe-Tod in einem tiefen mongolischen Brunnen endet. Dieser Brunnen wird zum zentralen Symbol des Romans, denn Okada findet auf dem Grundstück eines aus tragisch-geheimnisvollen Gründen verlassenen Hauses in der Nachbarschaft einen ähnlichen Brunnen und benutzt dessen Tiefen zum Nachdenken. In der absoluten Dunkelheit des Brunnenbodens erhält er nicht nur den Zugang zu der bereits erwähnten „anderen“ Welt, sondern als Zeichen seines „Auserwähltseins“ auch ein Muttermal auf der Wange, das ihm besondere spirituelle Kräfte verleiht.

In dieser anderen Welt entdeckt er Spuren seines bösartigen Schwagers, der offensichtlich über ähnliche Fähigkeiten verfügt und den neu eindringenden Mann seiner Frau als Gefahr erkennt. Auch Komiko scheint hier gefangen zu sein, kann sich ihm aber nur in mittelbarer Form ohne visuellen Kontakt nähern. Murakami baut das Thema der zwei Welten jetzt konsequent aus und beschreibt diese andere Welt bewusst als eine unregulierte, in der sich alle grausamen Vorstellungen und Egomanien ausleben lassen. Jedoch belässt er die Details im Vagen und in steter Veränderung, so als sei das Ganze ein quälender Albtraum.

In der gewohnten Realität präsentiert er dagegen immer wieder traumatische Ereignisse aus dem japanisch-russischen Krieg Ende der dreißiger Jahre sowie aus der Nachkriegszeit nach 1945, die man sozusagen als reales Abbild der grausamen „anderen“ Welt verstehen kann.

Am Schluss kommt es dann zu dem Zweikampf zwischen Okada und seinem Schwager, der seine Folgen in beiden Welten zeitigt. Der Roman endet zwar nicht mit einem „Happy End“. jedoch mit einer gewissen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dabei spielt die junge Mei als Modell für eine andere, lebensfrohere Komiko eine wesentliche Rolle, ohne dabei jedoch eine erotische Alternative zu spielen.

Wer sich auf spekulative Ausflüge in die surrealistische oder irrationale Vorstellungswelt multipler Welten nicht verseinlassen will, wird bei diesem Roman vielleicht die Nase rümpfen; wer jedoch offen auch für das rational nicht Erfassbare ist, wird in diesem Roman neue Einblicke in die Struktur des menschlichen Wesens und in seine Einblicke gewinnen. Dem Sprecher David Nathan gelingt es, die Doppelbödigkeit dieses Romans eindringlich zum Ausdruck zu bringen. Gerade die gespielte Vordergründigkeit, ja Naivität des Protagonisten lässt die dahinter agierenden Mächte umso bedrohlicher wirken.

Das Hörbuch ist bei HörbucHHamburg erschienen, umfasst 4 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von nahezu dreißig Stunden und kostet 34 Euro.

Frank Raudszus

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