Pascal Mercier: „Das Gewicht der Worte“

Print Friendly, PDF & Email

Der Übersetzer Simon Leyland ist der Protagonist des Romans „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier.

In diesem Roman geht es um Lebenskrisen und Lebensdramen, aus denen Neuanfänge entstehen. Und es geht um das Ringen um Worte, die solche Krisen und Befindlichkeiten angemessen ausdrücken können.

Der Übersetzer Simon Leyland ist Brite, lebt aber über 30 Jahre in Triest, wo seine inzwischen verstorbene Frau einen Verlag geerbt hat, den er nach deren Tod übernimmt. Er übersetzt italienische Literatur ins Englische und umgekehrt englische Literatur ins Italienische. Dabei erkennt er, dass es nicht nur um das Finden der richtigen Worte geht, sondern auch wesentlich darum, sich der Melodie des Originals so weit wie möglich anzunähern.

Als er eine katastrophale Diagnose erhält, die bedeutet, dass er nur noch wenig Zeit zu leben hat, verkauft er den Verlag, ordnet seine Angelegenheiten und sorgt dafür, dass er zu dem von ihm zu bestimmenden Zeitpunkt aus dem Leben scheiden kann.

77 Tagge lebt er mit der Diagnose, bis sie sich als das Ergebnis einer Verwechslung entpuppt. Das zwingt ihn zur Rückkehr ins Leben und zu neuer Orientierung.

Da kommt der Ruf zurück nach London gerade recht. Der Onkel ist gestorben und hat ihm sein Haus in London vererbt. Was eigentlich nur als kurzer Aufenthalt gedacht war, wird ein Neubeginn in der alten Heimat mit der Wiederbegegnung mit alten Freunden und Weggefährten wie auch mit neuen menschlichen Begegnungen.

In den Gesprächen mit alten und neuen Freunden blickt Leyland zurück auf sein Leben, das ihm als eine Abfolge von Neuanfängen erscheint. Es beginnt damit, dass er als 17-jähriger Hals über Kopf das ehrwürdige Oxforder Gymnasium und das behütende, gutbürgerliche Elternhaus verlässt und sich in London als Nachtportier durchschlägt. Dann ist es die Begegnung mit Livia, seiner späteren Frau, und ihr gemeinsames Leben in London, nach sieben weiteren Jahren dann der Umzug nach Triest. Livias plötzlicher Tod bedeutet nach 13 Jahren Triest den größten Einschnitt in seinem Leben bis zu der Diagnose 11 Jahre später.

Um Vergangenheit und Gegenwart seines Protagonisten zu verknüpfen, wendet Mercier unterschiedliche Sichtweisen an. Ein personaler Erzähler, der die Ereignisse und Reflexionen zwar in der 3. Person, aber immer aus der Sicht Simon Leyland darstellt, wechselt ab mit Erzählungen in der 1. Person, in denen Simon selbst in Gesprächen über sein Leben und die Lebensfragen spricht, bzw. in denen andere Menschen ihm ihre Lebensgeschichten erzählen. Hinzu kommen die Briefe, die Simon in mehr oder weniger großen Abständen an seine verstorbene Frau schreibt, wenn er sich über etwas klar werden will oder nicht weiß, wie es mit seinem Leben weitergehen soll.

Die Vielfalt der Perspektiven gibt dem Leser Einblick in die unterschiedlichsten seelischen Verfassungen der Menschen, denen Simon begegnet. Es sind Biografien von Menschen, die aufgrund fragwürdiger Gerichtsurteile aus der Bahn geraten sind oder die aus anderen Gründen in existenzielle Not geraten sind, und zwar sowohl in London als auch in Triest.

Bis zu etwa der Hälfte des Buches ist die Thematik durchaus fesselnd, denn es geht für alle diese Menschen darum, wie sie wieder im Leben Fuß fassen können, insbesondere für den Protagonisten.

In London steht er am Scheideweg, wie und wo sein Leben weitergehen soll: in London oder in Triest? Und noch entscheidender: Kann er es schaffen, zu einer eigenen Stimme, d.h. zu einer eigenen Erzählung zu gelangen, wie es ihm sein Onkel in seinem Abschiedsbrief nahegelegt hat, statt nur anderen Autoren mit seiner Übersetzung eine Stimme zu geben?

Hier hätte der Roman enden können, hätte dem Leser die Freiheit von Interpretationsspielräumen gelassen.

Das aber lässt Mercier nicht zu. Stattdessen legt er weitere Handlungsstränge an, führt neue Figuren ein, die dem Protagonisten mehr oder weniger zufällig über den Weg laufen, die aber vor längerer Zeit in einem, wenn auch losem, Bezug zu ihm standen. Alle diese Menschen tragen Probleme mit sich herum – materiell oder psychisch oder beides -, die sie selbst nicht lösen können. Da tritt Simon Leyland auf den Plan, der durch die überstandene Lebenskrise stark und durch den Verkauf des Verlages reich geworden ist. Er wirkt als Retter in finanzieller Not und als Vermittler, der den Verunsicherten zu neuer Lebensperspektive verhilft. Man möchte Leyland fast einen Heiligenschein aufsetzen.

Alle diese Menschen sind von Grund auf gut, müssen nur wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Auch Leylands erwachsene Kinder gehören dazu. Mit ihrem Vater bilden sie eine denkbar harmonische Familie, sie suchen den Rat des Vaters, er wiederum den Rat und die Hilfe seiner Kinder. Auch die Kinder brechen mit dem eingeschlagenen beruflichen Weg und suchen nach einem wahreren Leben. Die Tochter bricht nach zehn Jahren mit der Welt der Medizin, alle Ärzte werden als die „weiße Kaste“ diffamiert. Für den Sohn ist es die Welt der Juristerei, insbesondere die der Anwälte, die als „schwarze Kaste“ pauschal verunglimpft wird. Die Tochter begibt sich in die Welt des Dokumentarfilms, der Sohn flüchtet in die Wissenschaft und in die Welt des Wortes: Auch er wird übersetzen.
So viele gute, und dennoch an sich selbst zweifelnde Menschen! Wie ist das nur möglich? Oder ist das einfach nur Kitsch?

Diese Ausweitung der Lebenskreise Simon Leylands wird für den Leser zunehmend unerträglich, insbesondere weil die Darstellungen und Erzählungen der verschiedenen Figuren mit Lebensweisheiten gespickt sind, die dem Leser jede Möglichkeit eigener Beurteilung nehmen, alles wird ihm mitgeteilt. Und das auch noch mehrfach. Denn Simon Leyland reflektiert weiterhin alle Begegnungen in Briefen an seine verstorbene Frau. Da lesen wir dann noch einmal, was wir grade schon gehört haben, nun aber kommentiert von dem Protagonisten (oder vom Autor?). Leerstellen, die der Leser selbst füllen könnte, gibt es nicht.

Mercier erspart uns auch nicht Simons Weg zur eigenen Stimme, also zur eigenen Erzählung. Wir müssen von ihm hören, wie schwierig der Prozess des Schreibens ist, wie schwierig es ist, eine Figur zu erfinden, die nicht mit dem Autor identisch ist, dennoch aber Träger seiner Fragen an das Leben ist. Als ob das nicht bekannt ist! Und er erspart uns auch nicht, als wir längst danach schielen, wann denn dieser Roman nun endlich zu Ende ist, uns Simons Erzählung, die wohl ein Roman werden wird, in Auszügen zu präsentieren.

Wieviel eleganter geschieht das in einem der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts, an dessen Ende der Erzähler beschließt, nun aufzuschreiben, was er tatsächlich schon über mehrere tausend Seiten erzählt hat.

Dass Mercier diesen Roman auch bis zum Ende gelesen hat, lässt sich seinem Roman entnehmen. Wenn er sich mit „Das Gewicht der Worte“ an diesem Roman orientiert haben sollte, dann hat er sich gewaltig verhoben. Es hätte ihm auch klar sein müssen, dass seine eigenen Reflexionen, etwa die zur Relativität der Zeit, nicht mehr als Allgemeinplätze sind.

Man kann nur hoffen, dass Simon Leyland mit seiner Erzählung früher zum Schluss kommt als sein Autor.

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, hat 573 Seiten und kostet 26 Euro.

Elke Trost  

,

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar