Fridolin Schley: „Die Verteidigung“

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Der jüngst erschienene Roman „Die Verteidigung“ von Fridolin Schley ist eine Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Wilhelmsstraßen-Prozess“ gegen Ernst von Weizsäcker im Rahmen der Nürnberger Prozesse. Der Wilhelmsstraßen-Prozess dauerte insgesamt fünf Monate von der Anklageerhebung im November 1947 bis zur Urteilsverkündung im April 1949.

Schley verknüpft in seinem Roman Dokumente zu dem Prozess mit fiktionalen Darstellungen und Interpretationen der wichtigsten handelnden Figuren bzw. realen Personen.

Ihm geht es zum einen darum, die Hintergründe und den Ablauf des Verfahrens aufzudecken, zum anderen darum, die Haltungen der betroffenen historischen Personen zu verstehen. Das erreicht er durch deren Fiktionalisierung als literarische Figuren. So kann er mögliche innere Zustände, Zweifel, Gefühle ausloten, ohne deren Verifizierung zu unterliegen. Das schafft literarische Freiräume der Interpretation.

Zu Erhellung der Strategien von Anklage und Verteidigung zitiert Schley aus wissenschaftlichen Untersuchungen zum Prozess ebenso wie aus Zeitungsberichten und Protokollen zum Prozessverlauf, insbesondere zu Zeugenaussagen, aber auch aus persönlichen Briefen von Weizsäckers.

Die Anklage wirft Ernst von Weizsäcker vor, in seinem Amt als Staatssekretär im Auswärtigen Amt zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beigetragen zu haben. Das lässt sich an Dokumenten belegen, die von Weizsäcker unterschrieben hat. Der Anklagevertreter ist Robert Kempner, der aus Deutschland fliehen musste und nun für die Amerikaner arbeitet. Schley entwirft die Persönlichkeit Kempners als jemand, der konsequent die Wahrheit aufdecken will, ohne dabei von persönlichen Rachegedanken getragen zu sein, dennoch aber die gerechte Bestrafung aller Schuldigen herbeiführen will.

Der Prozess wird in der Darstellung Schleys zu einem intellektuellen Kräftemessen von Anklage und Verteidigung, letztere vertreten durch den Anwalt Hellmut Becker.

Schleys zeichnet Hellmut Becker als glänzenden Strategen, der die möglichen Wirkungen seiner Ausführungen auf den Ankläger gleich mitdenkt und sie parieren kann.

Die Verteidigungsstrategie setzt auf den inneren Widerstand Ernst von Weizsäckers: Er sei im Amt geblieben, um „Schlimmeres zu verhindern“.

Schley stellt Hellmut Becker als den Verteidiger dar, der zutiefst von der Ungerechtigkeit des ganzen Verfahrens überzeugt ist. Festgemacht wird das an dem Charakter von Weizsäckers, seiner Ehrenhaftigkeit und seiner preußischen Haltung zur Pflicht.

Von Weizsäcker wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: aus der Sicht von Mitarbeitern, Kollegen, Freunden, die alle von der Verteidigung aufgefordert werden, eine positive Zeugenaussage zu machen.

Von Weizsäckers Persönlichkeit wird sichtbar in seinen Briefen aus dem Gefängnis und in seinen Lebenserinnerungen. Da spricht ein hochgebildeter Mensch, mit ausgeprägtem moralischem Bewusstsein, der den ganzen Prozess als Zumutung erfährt. Diesem Menschen ist der „Dienst am Vaterland“ die Grundverpflichtung, aus der heraus er im Amt geblieben ist. „Mitmachen“ bedeutete für ihn, so viel zu verhindern wie möglich. Dass er sich dabei schuldig gemacht haben soll, akzeptiert er nicht.

Das differenzierteste Bild von Ernst von Weizsäcker zeichnet Schley mit der ambivalenten Haltung des Sohnes Richard. Richard von Weizsäcker war als junger Rechtsreferendar Assistent der Verteidigung und hat in dieser Funktion das ganze Verfahren verfolgt.

Die Literarisierung der historischen Person Richards gibt Schley die Freiheit, sich in den jungen Richard hineinzuversetzen und aus dessen Sicht die sehr unterschiedlichen Seiten des Vaters auszuloten. Der literarische Richard von Weizsäcker ist hin -und hergerissen zwischen innerer Verurteilung des Vaters, wenn er die Fakten und die Dokumente berücksichtigt, und dem inneren Freispruch für den Vater, wenn er dessen Festigkeit in seinen Grundwerten und Anforderungen an den Sohn sieht, die ihn gleichzeitig fast unnahbar gemacht haben.

Zaghafte Nähe kommt durch die Gespräche im Gefängnis zustande, insofern ist Schleys Roman auch eine Vater-Sohn-Erzählung.

Nur Richard hat die Möglichkeit, den Vater sowohl aus der Distanz des Prozessbegleiters zu sehen wie auch als Sohn, der Ängste und Hoffnungen des Vater im Zwiegespräch erlebt. Nur der Sohn kennt den ganz privaten Raum, in dem der Vater sehr vorsichtig Distanz zum System äußerte. Nur der Sohn kennt auch die erbarmungslose Strenge des erziehenden Vaters, der mit seiner Erziehung zur Härte und Selbstdisziplin ein Kind seiner Zeit ist und wohl auch deren Opfer. Wir verfolgen mit Richard das Verfahren gegen seinen Vater, nehmen teil an seinen Reflexionen über Schuldzuweisung einerseits und dem Versuch zu verstehen andererseits.

Schleys Roman ist für heutige Leserinnen und Leser in vielerlei Hinsicht von Bedeutung.

Er lässt uns hinter die Kulissen der Nürnberger Prozesse blicken und dabei erschrecken, wie wenig die NS-Täter das Grauen, das sie zumindest mitgetragen haben, als solches empfinden, wie viel verdrängt wurde, wie stark alte Seilschaften zusammenwirkten, um Angeklagte ins positive Licht zu stellen, wie viele dieser Seilschaften an wichtigen Funktionsstellen des neuen Staates weiterwirkten.

Das ist zwar alles nicht neu, aber mit der Fokussierung auf wenige Personen, insbesondere durch deren Literarisierung, kann Schley ein vielschichtiges Täterbild  entwickeln, das für die Leserinnen und Leser neue Fragen aufwirft: Kann es sein, dass ein Beamter in einer hohen leitenden Funktion wie Ernst von Weizsäcker wirklich das ganze Ausmaß der Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht kannte? Wie konnte der Schillerverehrer unmenschliche Anordnungen abzeichnen? Konnte er sich wirklich vormachen, „Schlimmeres“ verhindern zu können? Gab es denn überhaupt Schlimmeres als das, was jeden Tag passierte?

Schleys Roman-Hybrid ist durch Quellenverweise und ein ausführliches Literaturverzeichnis gut abgesichert, was die dokumentarische Seite des Romans anbetrifft. Für uns als Leserinnen und Leser ist der Roman wie eine Aufforderung, uns nun unsererseits auf den Weg zu machen und nachzulesen über Zusammenhänge, die uns nicht geläufig sind. Welche Rolle spielte das Auswärtige Amt? Welche Rolle spielte der Außenminister von Ribbentrop? Welche Bedeutung hatte das Münchner Abkommen von 1938?

Es lohnt sich unter anderem, die Literaturhinweise zu Richard von Weizsäcker aufzugreifen und den einen oder anderen Text zu lesen, etwa das FAZ- Interview mit Frank Schirrmacher und Stefan Aust von 2005 „Ich habe meinen Vater seitdem nie wieder lachen sehen“.

Insgesamt ist „Die Verteidigung“ ein wichtiges Buch, grade in einer Zeit, in der rechte Gruppen wieder starken Zulauf finden: Wir müssen uns immer wieder erinnern, dass Menschen, die im gebildeten Bürgertum verortet waren, nicht gefeit dagegen waren, dem brutalen Unrechtsstaat zu dienen. Wir alle müssen uns fragen, wie Widerstand aussehen kann oder muss. Reicht „innerer Widerstand“, der kaum sichtbar ist? Ist es eine Rechtfertigung, dass offener Widerstand lebensgefährlich war?

Wen diese Frage weiter umtreibt, die bzw. der lese Brechts Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“. Eine Antwort muss sie bzw. er bei Brecht ebenso wie bei Fridolin Schley selbst finden.

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, hat 272 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost

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