Bernhard Schlink: „Die Enkelin“

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Kaspar ist Buchhändler und besitzt einen kleinen Laden. Er ist siebzig Jahre alt und fällt nach dem Tod seiner depressiven, vom Alkohol abhängigen Frau Birgit in ein tiefes Loch. Angenehm war sein Leben mit Birgit schon lange nicht mehr, aber er umsorgte sie rührend, immer in der Hoffnung, sie werde mit dem Trinken aufhören.

Nach ihrem Tod findet er in ihren Unterlagen ein Tagebuch, in dem sie die Situationen ihres Lebens aufgeschrieben hat. Obwohl sich die beiden noch zu DDR-Zeiten ganz jung ineinander verliebt und Kaspar Birgit zur Flucht aus dem abgeschlossenen Teil Deutschlands verholfen hat, erfährt er erst im Alter, dass seine Frau das Kind eines anderen Mannes zur Welt gebracht hat. Birgit hat das Mädchen damals mit Hilfe einer Freundin gleich weggegeben. Sie wollte es aus den Augen und aus dem Sinn haben. Erst viel später, nach vielen Ehejahren mit Kaspar, hat Birgit versucht, ihre Tochter aufzuspüren.

Kaspars Interesse ist sofort geweckt. Er begibt sich auf Spurensuche und findet Birgits Tochter Svenja in einem kleinen Dorf im Osten Deutschlands. Sie lebt dort mit Mann und Tochter Sigrun bei völkischen Siedlern und lehnt die bürgerliche Gesellschaft ab. Kaspar gelingt es, Kontakt zu seiner vierzehnjährigen Enkelin aufzubauen. Die Unterschiede zwischen dem Denken des Westlers Kaspar und der völkischen Einstellungen seiner Enkelin offenbaren die konträren Ansichten der beiden. Vorsichtig versucht der Großvater, die Weltsicht seiner Enkelin zu erweitern. Dabei muss er äußerst behutsam vorgehen, damit ihm Sigrun nicht wieder von ihren Eltern entzogen wird. Es ist ein ständiger Tanz auf dem Kraterrand eines Vulkans, doch trotz größter Vorsicht kommt es zum Eklat.

Bernhard Schlink beleuchtet in diesem Roman die Unterschiede des Denkens und der Lebensart zwischen Ost- und Westdeutschland. Er beschreibt die Entwurzelung von Birgit, die den Sprung in den Westen nicht richtig geschafft hat und vielleicht deshalb zur Alkoholikerin wurde. Auch die Einsamkeit des Alters sowie die Neugier und Aufbruchstimmung der Jugend am Beispiel von Sigrun sind Themen dieses Romans.

Ein spannend zu lesender Roman, der die Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft auslotet. Die Leser werden eingeladen, Stellung zu beziehen und ihre eigene Position zu finden.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 368 Seiten und kostet 25 Euro.

Barbara Raudszus

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