David Edmonds: „Die Ermordung des Professor Schlick“

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Der Titel dieses Buches kann zu der irrtümlichen Annahme führen, hier handele es sich um einen Kriminalroman aus dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Auch der Untertitel „Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie“ klärt dank des Adjektivs „dunkel“ diesen Irrtum nicht auf, sondern fördert ihn sogar durch seine Ambivalenz. Zwar wird hier tatsächlich ein Philosophieprofessor ermordet, doch hatte diese Tat nichts mit seiner beruflichen Tätigkeit oder gar mit der Gruppe zu tun, der er angehörte.

Hier geht es in erster Linie um Philosophie. Während der letzten zwei Jahrtausende war die Philosophie eng an die (christliche) Religion angelehnt. Lange galt es geradezu als ketzerisch und damit als lebensgefährlich, eine säkulare Philosophie zu entwickeln, die sich nicht aus den transzendentalen Grundsätzen der christlichen Kirche nährte. Damit stand die sogenannte „Metaphysik“, die behauptete, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die Schulweisheit der Menschen sich träumen lassen könne (Zitat!), am Beginn und Ende aller ernsthaften Philosophie.

Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts hatten mit ihrer empiristischen Logik jedoch mehr und mehr Tatsachen zu Tage gebracht, die den metaphysischen Glaubenssätzen widersprachen. Hier sei nur Darwins Evolutionstheorie erwähnt. Zunehmend war auch die Philosophie gezwungen, sich mit dieser Art der Herangehensweise an die Phänomene der Natur und des menschlichen Daseins auseinanderzusetzen. Im Wien der zwanziger Jahre sammelten sich philosophische Köpfe aus verschiedensten Kulturkreisen des untergegangenen k.u.k.-Reiches, aber auch Deutschlands und sogar Englands. Ein kleiner Kern kompromissloser Denker wie Moritz Schlick – der später Ermordete -, und Rudolf Carnap, um nur zwei zu nennen, forderte, dass auch die Philosophie einem logischen Empirismus zu folgen habe, der auf Evidenz, Vorhersagbarkeit und Logik basiere. So betrachtete man Aussagen, die sich nicht belegen ließen, nicht als „falsch“, sondern als „unsinnig“. Man kann sich vorstellen, auf welchen Widerstand diese Gruppe in den traditionellen Geisteswissenschaften und speziell in der Philosophie stieß. Doch gerade dieser Widerstand weckte den Kampfgeist und den Ehrgeiz jüngerer und älterer Philosophen und Geisteswissenschaftler, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs alle alten Lehrsätze auf den Prüfstand stellen wollten.

Der ungekrönte König dieser Gruppe war Ludwig Wittgenstein, obwohl er während eines Großteils der Zeit an englischen Universitäten weilte oder anderen Beschäftigungen nachging. Diese Verehrung galt unter anderem seinem kompromisslosen logischen Denken, das alle menschlichen Erkenntnisse auf die Sprache und ihre Grenzen zurückführte. Der letzte Satz in seinem berühmten Werk „Tractatus logico-philosophicus“, worüber man nicht sprechen könne, solle man schweigen, bezieht sich nicht auf inkompetente Sprecher, sondern auf die eingeschränkte Möglichkeit, gewisse Dinge mit sprachlichen Mitteln auszudrücken. Wittgenstein stammte selbst aus einer schwerreichen Industriellenfamilie, schlug jedoch sein Erbe aus und wurde Volksschullehrer auf dem Lande, wo er nebenbei seinen philosophischen Studien nachging. Seine fast schon religiös anmutende Askese und sein kompromissloser Diskussionsstil ließen ihn zu einem Idol selbst der etabliertesten Professoren – Schlick! – werden.

Edmonds geht es in erster Linie um die Menschen dieser Gruppe. Chronologisch beschreibt er die Aktivitäten der Mitglieder, die sich in Privathäusern und in Wiener Kaffeehäusern trafen, stellt die Neuankömmlinge und auch Abgänge vor. Dabei verdeutlicht er, dass es sich hier nicht um eine geschlossene philosophische „Schule“ mit einheitlicher Theorie und weitgehend übereinstimmender Ausrichtung oder gar Ideologie handelte, sondern um eine lose Gruppe weitgehend unabhängiger Intellektueller, die sich nur in Einem einig waren: die Abkehr von einer als schwülstig und irrational empfundenen Metaphysik. Innerhalb der Grenzen einer klaren Logik existierten durchaus starke, im Einzelnen auch politische Unterschieden. So war der redegewaltige und dynamische Otto Neurath eher sozialistischer Gesellschaftspraktiker denn Philosoph und lag auch theoretisch mit manchem Kreismitglied über Kreuz. Andere lehnten sich gegenseitig aus Gründen der Etikette ab, so etwa lud Moritz Schlick Karl Popper wegen dessen rüder Diskussionsmethoden und angeblicher Überheblichkeit nicht einmal zu den Sitzungen ein. Und die Beziehungen zu Wittgenstein reichten von blinder Gefolgschaft zu deutlicher Gegnerschaft, was auch auf dessen apodiktisches Wesen zurückzuführen war.

Auch waren die Mitglieder des Kreises durchaus nicht auf akademischen Rosen gebettet. Trotz ihrer durchweg weit überdurchschnittlichen Intelligenz und ihres intellektuellen Rufes mussten einige von Ihnen um ihr materielles Überleben auf zweitklassigen Lehrerstellen oder gar mit Privatstunden kämpfen. Das hing auch mit der überwiegend jüdischen Herkunft zusammen. Edmonds arbeitet die genealogische Struktur der Bevölkerung und vor allem des Kreises deutlich heraus. Vor allem die assimilierten Juden des Bürgertums setzten hinsichtlich einer vollständigen Integration kompromisslos auf Bildung, was zu einer hohen prozentualen Durchdringung von Berufsgruppen wie Anwälten, Ärzten, Geisteswissenschaftlern und Finanzexperten führte. Den noch traditionell eingestellten Glaubensgenossen aus Osteuropa mit ihrer jüdischen Kleidung und der jiddischen Sprache gegenüber hegten sie dabei ähnliche Ressentiments wie das übliche, antisemitisch eingestellte christliche (Groß-)Bürgertum. Edmonds zeigt, dass die öffentliche Meinung bereits in den zwanziger Jahren über eine Begrenzung der jüdischen Präsenz in wichtigen Berufsgruppen nachdachte.

Doch die Mitglieder des Kreises fühlten sich aufgrund ihrer Assimiliertheit und ihrer politischen Enthaltung bis in die dreißiger Jahre hinein sicher, selbst nach der Machtergreifung in Deutschland. Erst Mitte der dreißiger Jahre, als die antisemitischen Ressentiments in Wien zunehmend in aktive Einschränkungen umschlugen, begannen sie, über die möglichen Folgen nachzudenken. Glücklicherweise hatten sie sich fast durchweg einen solchen internationalen Ruf erworben, dass Angebote vor allem aus England und den USA eintrafen. Einer nach dem anderen verließ Wien und brachte so den Wiener Kreis erst zum langsamen Austrocknen und dann zum Verschwinden. Doch überlebte dieser Kreis in kleinen Zirkeln an englischen und amerikanischen Universitäten, wo man sich zwar aufgrund der unterschiedlichen Kultur nicht unbedingt wohl fühlte, aber vor Verfolgung sicher war.

Da war die Ermordung des Moritz Schlick, lange Zeit inoffizieller Leiter des Wiener Kreises, im Jahr 1936 durch einen psychisch labilen jungen Mann wegen einer vermeintlichen erotischen Konkurrenzsituation nur noch wie das Zufallen der letzten Tür. Als dann 1938 der Anschluss an das Deutsche Reich erfolgte, ging es nur noch darum, so schnell wie möglich das Land zu verlassen, was den meisten glücklicherweise gelang.

David Edmonds hat mit diesem Buch einer wichtigen Epoche der neueren europäischen Philosophie und ihrer Randgebiete die ihr zukommende Reverenz erwiesen und ihren Stellenwert zum Ausdruck gebracht. Was vielleicht fehlt, ist ein Verweis auf den „Positivismus-Streit“ der sechziger Jahre. Zwar hat dieser nicht direkt mit dem bereits verschwundenen Kreis zu tun, greift jedoch über die Person von Karl Popper noch einmal die Denkweise des Kreises aus der marxismusnahen Sicht der Frankfurter Schule auf (und an). Als ironischer Schlusspunkt und später Nachhall des Wiener Kreises wäre eine Erwähnung sinnvoll gewesen. Das mindert jedoch in keiner Weise die Qualität und die Bedeutung dieses Buches, dass eine Reihe von großen Geistern des 20. Jahrhundert noch einmal in Erinnerung ruft.

Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 352 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus

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