Florence de Changy: „Verschwunden“

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In der Nacht vom 7. auf den 8. März 2014 verschwand die Boeing 777 der Malaysia Airlines mit der Flugnummer MH370 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking spurlos über dem südchinesischen Meer zwischen Malaysia und Vietnam. Die letzte Nachricht des Flugkapitäns gegen 01.19 Uhr, „Gute Nacht, Malaysia 370“ hat seitdem geradezu prophetischen Charakter angenommen.

In der Öffentlichkeit, sprich: den Medien, setzte sich schnell die Erklärung eines erweiterten Suizids des Flugkapitäns durch, der angeblich die Maschine nach Ausschaltung von Passagieren und Besatzung im südlichen Indischen Ozean nach Verbrauch allen Kraftstoffs ins Meer steuerte.

Florence de Changy erhielt von ihrer Zeitung „Le Monde“ den Auftrag, die Hintergründe dieses mysteriösen Unfalls zu recherchieren und – nach Möglichkeit – den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse zu ermitteln. Letztere Aufgabe konnte sie aus verschiedenen Gründen nie erfüllen, jedoch gelang es ihr schon früh, die offizielle Darstellung als aus vielen Gründen widersprüchlich, ja geradezu unsinnig zu entlarven. Da aber niemand diese Einwände hören wollte, verfasste sie 2020 das vorliegende Buch auf Französisch, das jetzt in der deutschen Übersetzung vorliegt.

Mit akribischer Genauigkeit geht Changy den offiziellen Behauptungen nach und zerreißt sie förmlich in der Luft. Die angeblich zerrüttete Ehe des Flugkapitäns erweist sich ebenso als Erfindung wie seine politischen oder beruflichen Depressionen, und auch seine Übungen am Flugsimulator lassen sich ernsthaft nicht als Beleg nutzen. Mehr und mehr schält sich bei ihren Nachforschungen die Erkenntnis heraus, dass alle namhaften staatlichen und zivilen Institutionen gemeinsam an einem Strang der Desinformation zogen, die den Absturzort vom letzten Kontaktpunkt im Golf von Thailand weit weg in Richtung Australien verlegen sollte. In sich widersprüchliche Beweismittel für diese Deutung – so Messdaten von Inmarsat oder andere angebliche Ortungen – wurden nur genannt und für richtig befunden aber nie zur unabhängigen Prüfung freigegen. Angebliche Unfallzeugen um den letzten Standort des Flugzeugs, die kurz nach dem Verschwinden des Flugzeugs von Feuer am Himmel und Wrackteilen im Wasser berichteten, wurden überhört, systematisch unglaubwürdig gemacht, verweigerten später unter deutlichen Symptomen psychischen Stresses jede weitere Aussage oder widerriefen ihre ursprünglichen Aussagen. Von Boeing hörte man kaum etwas, die Regierung von Malaysia überbot sich in Inkompetenz, und sowohl die USA als auch China äußerten sich kaum oder nur sporadisch zu dem Thema MH370. Und das, obwohl die USA zu diesem Zeitpunkt im asiatischen Raum sehr präsent war und die mehr als die Hälfte der Passagiere Chinesen waren.

Florence de Changy musste nach Jahren intensivster – und durchaus erfolgreicher – Recherche erkennen, dass sie gegen die Vorherrschaft der in sich widersprüchlichen Suizid-Theorie nicht ankam, zumal die internationale Presse die mit persönlicher Schuld und Intrige gewürzte Deutung der Tragödie dankbar als gut verkaufbare Geschichte akzeptierte. Überdies blieben die internationalen Vertuscher, allen voran die größten Staaten, die sonst jeder Flugzeugkatastrophe konsequent auf den Grund gehen, einhellig bei ihrer Sicht der Dinge, und das, obwohl die Maschine trotz aufwändigster Suche in der angeblichen Absturzregion nie gefunden wird.

Am Schluss ihrer äußerst sachlichen und im Detail gründlich abwägenden Analyse bleibt Changy dann als Konsequenz nur die Schlussfolgerung, dass hier eine staatlich-militärische Aktion vollständig aus dem Ruder gelaufen ist. Von Anfang an kennzeichnet sie diese Überlegungen jedoch als eine Hypothese, die auf Indizien und nicht auf harten Beweisen beruht. Allerdings weisen die vorliegenden Indizien den Charakter verstreuter Puzzleteile auf, die ein in sich geschlossenes Bild denkbar wenn nicht zwangsläufig werden lassen. Demnach transportierte MH370 unter anderem eine Ladung gestohlener Hochtechnologie-Geräte aus dem Militärbereich, für die sich China schon länger brennend interessierte. Die im Vergleich zu normaler Ladung dubiose weil minimale und banale Deklarierung der Ladung lädt geradezu zu dieser Interpretation ein, zumal diese Ladung nachweisbar aus Pakistan – Nachbar Afghanistans! – kam und per Militäreskorte zum Flughafen von Kuala Lumpur transportiert wurde. Der ursprüngliche Besitzer dieser Ware erfuhr wohl zu spät von dem Diebstahl und konnte die Landung in Peking nur mit drastischen Mitteln verhindern. Diese theoretischen Überlegungen werden auch durch die seltsam indifferente Haltung der USA und Chinas zu der Flugzeugkatastrophe gestützt, denn beide konnten -falls die Hypothese zutrifft – aus gegebenen Gründen kein Interesse an einer intensiven Diskussion hegen.

Changy diskutiert die möglichen Varianten dieser Situation und warum sie in einem Desaster endete und belegt dabei jede weitere Überlegung jeweils durch vorhandene – allerdings nie mehr bestätigte oder gar wiederholte – Äußerungen von Augenzeugen. Dabei achtet sie stets auf den hypothetischen Charakter dieser Überlegungen und vermeidet jegliche Nähe zu Verschwörungstheorien. Aber gerade dadurch gewinnen ihre Ausführungen eine hohe Brisanz. Wer dieses Buch ohne vorgefertigte Meinung liest, kommt nicht umhin, sich seine eigenen Gedanken zur Weltpolitik zu machen, denn in diesem angedachten Spiel um Macht und geopolitische Geländegewinne gibt es zwar letztlich nur Gewinner, aber auf einem ausgesprochen zynischen Niveau.

Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 495 Seiten und kostet 16,99 Euro.

Frank Raudszus

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