Marie NDiaye: „Die Rache ist mein“ 

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Marie NDiaye konfrontiert uns in ihrem neuen Roman „Die Rache ist mein“ mit familiären Beziehungen, die nach außen harmonisch und friedlich wirken. Tatsächlich aber tun sich Abgründe auf, die alle Liebesbekundungen als aufgesetzt und heuchlerisch entlarven. Was nach außen als Liebe zum Partner bzw. zur Partnerin aussieht, ist in Wahrheit nur ein Zerrbild größter Eigenliebe. Alle Figuren dieses Romans erzählen unterschiedliche Geschichten über ihre Beziehungen.

Die Anwältin Maître Susane lebt nach einer einvernehmlich beendeten Beziehung allein in Bordeaux. Ihr Privatleben ist sehr rudimentär, sie wohnt in einem spartanischen Appartement, alles wirkt trostlos. Ihren Vornamen erfahren wir nicht, sie wird nur als Me Susane, der Abkürzung für ihre berufliche Bezeichnung „Maître“, bezeichnet. Ihre Kanzlei läuft mehr schlecht als recht, sie hangelt sich von einem kleinen unbedeutenden Fall zum anderen. Da taucht eines Tages Gilles Principaux bei ihr auf, der sie bittet, das Mandat für seine Frau Marlyne zu übernehmen, die ihre drei Kinder getötet hat. Der Fall hat in Frankreich großes Aufsehen erregt, umso erstaunter ist Me Susane, dass dieser Mann ausgerechnet zu ihr kommt. Warum glaubt er, nur sie könne seine Frauoder ihn selbst  – retten?

Diese Begegnung wird ihr ganzes Leben ins Rutschen bringen, alles, was sicher und geordnet schien, wird fragwürdig. Sie glaubt, ihm als 10-jähriges Kind schon einmal begegnet zu sein, als er bereits Halbwüchsiger war, für sie ein einschneidendes Erlebnis. Ob Gilles Principaux mit diesem Jüngling identisch ist, was damals geschehen ist oder ob überhaupt etwas geschehen ist, bleibt jedoch im Unklaren. Alle Versuch, über ihre Eltern Genaueres zu erfahren, scheitern am Widerstand der Eltern, die unterschiedliche Geschichten erzählen. Die angeblich so liebevollen Eltern brechen merkwürdigerweise die Beziehung zu ihr ab.

Auch auf den anderen Handlungsebenen zeigt sich, wie Me Susanes Leben ihrer eigenen Kontrolle entgleitet. Symbolisch dafür steht ein Sturz auf eisglatter Straße. Unvorsichtigerweise trägt sie die Stöckelschuhen, die ihr eigentlich in der Kanzlei vor ihren Mandanten Autorität verleihen sollen. Die Wunden, die sich dabei schlägt, werden sie lange zeichnen.

Die völlig gegensätzliche Darstellung des Lebens der Familie Principaux durch den Mann einerseits und seine Frau Marlyne andererseits wirkt zunehmend verstörend auf Me Susane.

Welche Darstellung entspricht der Wahrheit? Die der liebevollen, auf gegenseitiger Rücksicht beruhenden Harmonie des Familienlebens aus der Sicht von Gilles? Oder die Geschichte vom rücksichtslosen Familientyrannen, vor dem sich Frau und Kinder fürchten? Was ist Schein und was ist echt in dieser Familie? Und was brachte die Frau zu ihrer schrecklichen Tat? Erschütternd sind die Gespräche im Gefängnis mit Marlyne, die Beschreibung ihrer Tat und schließlich ihr Motiv. Man möchte fast nicht weiterlesen, so unerträglich ist das.

Auch in Me Susanes privaten Bereich beginnen die Dinge aus dem Lot zu geraten, Beziehungen sich zu verkehren. Die fleißige, ihr scheinbar selbstlos ergebene Haushaltshilfe Sharon aus Mauritius erweist sich als eine äußerst selbstbewusste Person, die in Me Susanes Leben zunehmend die Führung übernimmt. Sharon hat keine Aufenthaltsgenehmigung. Aber warum kann sie ihre Heiratsurkunde nicht herbeischaffen, die Me Susane dringend benötigt, um ihr helfen zu können? Unter der Hand hat sie ein weiteres Arbeitsverhältnis, just bei einer alten Dame, die denselben Namen trägt wie Gilles. Ist sie dessen Mutter? Ist das die Frau, bei der Me Susanes Mutter geputzt hat und wohin sie ihre kleine Tochter mitgenommen hat? Alle Versuche Me Susanes, hier Klarheit zu erlangen, verlaufen im Nebel.

Geradezu panisch wird Me Susane, als ihr Ex-Freund Rudy seine kleine Tochter Lila ihrer Putzhilfe Sharon anvertraut, die die Kleine wiederum mitnimmt zu jener alten Dame mit Namen Principaux. In Me Susanes Kopf geht alles durcheinander. Sie meint dieses Kind bewahren zu müssen, damit sich nichts wiederholt, was immer es auch gewesen sein mag. Es scheint, dass Sharon die Macht hat, ihr das Kind zu entziehen, das sie doch selbst liebt wie ein eigenes.

Schließlich kommt es zum Zusammenbruch. Zur Genesung findet sich Me Susane wieder auf Mauritius bei Bruder und Schwägerin von Sharon. Aber auch hier ist alles unklar. Die Beziehung zwischen Sharon und ihrem Bruder wird von beiden völlig gegensätzlich dargestellt. Es lässt sich nicht herausfinden, wer gut und wer böse ist, wer liebt und wer hasst.

Es bleibt bis zum Schluss offen, wie viel der Verwirrung nur in Me Susane Kopf besteht und was Wirklichkeit ist.

Erst ein Überfall auf ihre Person auf dem Weg zum Flughafen, den sie erfolgreich abwehren kann, wirkt wie ein Schock, der ihr wieder Klarheit bringt.

Zurück in Bordeaux führt sie die gerichtliche Verhandlung als Anwältin Marlynes mit einem konsequenten Ziel durch, um im letzten Satz alle Sicherheit wieder aufzuheben.  

Wie schon in ihrem 2010 erschienenen Roman „Drei starke Frauen“, in dem es um die Schicksale dreier afrikanischer Frauen ging, konzentriert sich NDiaye in diesem Roman auf die verschiedenen weiblichen Biographien. Die Figuren Me Susane, Marlyne, Sharon und Me Susanes Mutter unterscheiden sich, was Bildungsstand, sozialen Status und Herkunft anbetrifft. Hoher Bildungsstand und gehobener sozialer Status bedeuten aber nicht gleich ein emanzipiertes, selbstbestimmtes Frauenleben.

Die einzige wirklich starke Frau ist Sharon, die auf eigene Faust ihre Heimat verlassen hat, um in Frankreich ein neues Leben zu beginnen. Sie ist zielbewusst, hat Mann und Kinder und verliert dennoch die eigene Perspektive nicht aus den Augen. Me Susane und Marlyne sind beide akademisch gebildet, und doch sind sie nur zu bereit, sich anderen, insbesondere den Männern, zu unterwerfen. Me Susanes Mutter hat offenbar gar nicht gelernt, eigene Bedürfnisse zu entwickeln, die von denen ihres Mannes abweichen.

NDiaye zeichnet ein Bild der starken und stolzen afrikanischen Frau, der gegenüber die Europäerinnen dekadent wirken. Gesundet Me Susane, weil sie sich auf der kleinen Insel im Indischen Ozean etwas von dieser Kraft aneignen kann?

NDiaye erzählt in einer eindringlichen, schnörkellosen Sprache, die ganz nahe an die Figuren heranführt, uns als Leserinnen und Lesern aber auch nichts erspart.

Ist es unsere westliche, sogenannte Zivilisation, die eine verzweifelte Frau dazu bringt, ihre drei Kinder zu töten?  Verspricht Migration von starken Frauen dem alten Kontinent neue Kraft? Diese Vision vermittelt NDiaye mit der Figur der Sharon.

Insgesamt ist „Die Rache ist mein“ ein sehr lesenswertes Buch, mit dem sich die Leserinnen und Leser aber auch etwas zumuten, das sie verkraften können müssen.   

Der Roman, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Klascheuer, ist im Suhrkamp Verlag erschienen, hat 237 Seiten und kostet 22 Euro.

Elke Trost

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