Stine Pilgaard: „Meter pro Sekunde“

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Bücher von Großstädtern über die Entdeckung der ländlichen Provinz sind gerade en vogue, in Deutschland etwa bei Julie Zeh oder Lola Rand. Diese Selbstfindungserzählungen weisen oft einen leicht jovialen wenn nicht – unbewusst? – herablassenden Grundtenor auf, glauben doch weltläufige Urbanisten gerne, als einzige die Vorteile beider Lebenswelten zu vereinigen.

Die Dänin Stine Pilgaard erliegt dieser Versuchung nicht – oder nur selten. Ihre Ich-Erzählerin hat sich mit Freund und Kleinkind in einem westjütländischen Dorf niedergelassen, wo ihr Lebensgefährte eine Stelle in einer Privatschule angenommen hat. Sie muss sich jetzt selber in dem Ort akklimatisieren, ohne eine Organisation wie die Schule hinter sich zu haben. Schnell merkt sie, dass die konservative Bevölkerung etwas irritiert ist über ihr ehefreies Zusammenleben mit Freund und Kind. Freundliche, aber deutliche Bemerkungen der Mitbürger weisen sie auf die Vorteile einer Ehe hin. Generell muss sie sich erst an die Art der zwischenmenschlichen Kommunikation am jütländischen Nordseestrand gewöhnen, die darin zu bestehen scheint, einen Wettbewerb um das längere Schweigen auszutragen.

Ein zentrales Thema der Ich-Erzählerin sind ihre Fahrstunden, die gefühlt ganze Kohorten von Fahrlehrern an die Grenzen ihrer Geduld getrieben haben. Für die junge Frau bestehen die Straßen aus einem Furcht erregenden Gewimmel von Autos, Schildern, Radfahrern und Fußgängern, und die Zahl ihrer Fahrstunden steigt von Rekord zu Rekord. Die entsprechenden Beschreibungen sind gerade wegen ihres lakonischen Tons stets Garanten für Lacher.

Ihre allgemeinen Weltbetrachtungen kleidet die Autorin in einen Kummerkasten, den ihre Protagonistin für das lokale Blättchen betreut. Von Beziehungs- über Gesundheits- bis zu allgemeinen Lebensfragen wird hier alles thematisiert, was Menschen aller Altersklassen bewegt. Die Autorin unterlegt all diese kleinen und größeren Abhandlungen mit viel pragmatischem Humor. Den beweist ihre Ich-Erzählerin auch im täglichen Zusammentreffen mit den Einwohnern des Dorfes, und vor allem nimmt sie sich selbst bei der Ironie nicht aus. Sie ist keine weltläufige Intellektuelle aus einer urbanen Hochburg, sondern eine junge Frau mit einer lebensfrohen Naivität, die sie anfangs ungefiltert äußert, aber der sie sich schnell selbstironisch bewusst wird. Dazu gehört ihre ganztägige Fokussierung auf ihren kleinen Sohn, dessen Befindlichkeit vom Hunger bis zur Konsistenz der Ausscheidungen sie bei jedem Anlass zum nicht enden wollenden Thema macht. Mit viel Selbstironie beschreibt sie die Erschlaffung der Gesichtszüge und die einsetzenden Stille im Kreis der Freunde und Mitbürger, wenn sie über ihr Kind zu reden beginnt.

Dabei ist unüberhörbar, dass die Ich-Erzählerin – und natürlich die Autorin – diese etwas knorrige und eigenwillige Region Dänemarks liebt und sich zunehmend mit ihr identifiziert. Die Sprecherin Caroline Peters bringt die frische, neugierige und selbstironische Art der Ich-Erzählerin durch eine nur vordergründig naive Art auf den Punkt. Mit der Protagonistin erarbeitet sie sich auf freie und humoristische Art das Verständnis der ländlichen Bevölkerung in beiden Richtungen. Es bereitet Vergnügen, diesem Hörbuch zuzuhören.

Es ist im Kanon-Verlag erschienen, umfasst 1 mp3 CD mit einer Laufzeit von 5 Stunden und 50 Minuten und kostet 23 Euro.

Frank Raudszus

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