Ernst-Wilhelm Händler: „Die Produktion von Gesellschaft“

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Während sich der Autor dieses Buches in seinem früher hier rezensierten Roman „Das Geld spricht“ als scharfsinniger Romancier präsentierte, zeigt er hier eine ganz andere, wesentlich weiter und tiefer gespannte Facette seines schriftstellerischen Wirkens. Entgegen der wohl zu begründenden Einstellung, die Biographie von Literaten sauber von dem Inhalt der zu rezensierenden Werke zu trennen, scheint es hier doch angemessen, die intellektuelle Vielfalt des Autors anhand seines Lebenslaufes zu verdeutlichen. Nach dem Studium von Wirtschaftswissenschaften und Philosophie, an sich schon eine seltene Kombination, leitete er ein mittelgroßes Industrieunternehmen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er kennt sich dadurch nicht nur in der – oft „elfenbeinernen“ – Theoriewelt für Wirtschaft und Gesellschaft aus, sondern kennt auch den Alltag. Damit ist er sozusagen ideologie-resilient.

Nach einer kurzen Betrachtung der grundlegenden Eigenschaft von Gesellschaft(en), mehr als nur die Summe ihrer Elemente – Individuen – zu sein und dagegen eine eigene Einheit zu bilden, formuliert er ganz konkret seine Behauptung in fast mathematischer Kürze: „Gesellschaft ist die Produktion von nicht identischer Ersetzbarkeit„.

Das hört sich erst einmal recht unverständlich an, ist es aber gar nicht. Die Produktionsumgebung ist der zentrale Begriff seiner Theorie, und sie enthält alle erforderlichen Komponenten wie Produktionsfaktoren – e. g. Menschen, Maschinen, (Sub-)Gesellschaften(!) -, Intentionen – die jeweils dahinter stehenden Absichten – und deren Aktualisierungen, sprich: Verwirklichungen. Ersetzbarkeit bedeutet bei ihm nichts weiter, als dass die Gesellschaft auch nach Austausch einzelner Elemente dieser Gruppen weiter besteht. Im praktischen Fall der Wirtschaft sind das Kündigungen bzw. Renteneintritt einerseits und Neueinstellungen andererseits. Die Produktionsfunktionen verbinden die Faktoren mit den Aktualisierungen als „Bauanleitung“.

Händler scheut vom ersten Augenblick nicht davor zurück, die Produktionsformeln in mathematischer Form wiederzugeben. Am Schluss jedes Kapitels fasst er die verbal erläuterten Zusammenhänge in mengentheoretischen Formeln zusammen, die gut nachvollziehbar sind, solange man die grundlegenden Notationen der Mengenleere beherrscht. Händler zielt also von vornherein nicht auf einen MINT-fernen Massenmarkt, sondern in gewisser Weise auf eine intellektuelle „Oberschicht“.

Das schlägt sich nicht nur in den erwähnten Formeln nieder, sondern auch in dem Weg durch die Wissenschaften, den Händler nach der anfänglichen Behauptung unternimmt. Da Formalisierung auf mathematische Methoden hinausläuft, geht er mit stupender Kenntnis durch die mathematischen Gefilde des letzten Jahrhunderts und erläutert nicht nur die Gültigkeitsprobleme der Mathematik bis hin zu Gödels Unvollständigkeitssatz, sondern er besucht auch gleich noch die Physik als exemplarisches Anwendungsgebiet der Mathematik und zeigt anhand sowohl der Teilchenphysik wie der Kosmologie, dass sich das Popper´sche Falsifizierungskonzept aufgrund nicht vorhandener Experimentiermöglichkeiten nicht mehr einhalten lässt. Dabei beweist Händler auf den erwähnten Gebieten derart eingehende Kenntnisse, wie sie für Geisteswissenschaftler nicht unbedingt selbstverständlich sind. Diese Gedankengänge führt er natürlich deswegen aus, um etwaige Einwände wegen mangelnder Beweise seiner eigenen Theorie im Vorfeld abzuwehren. Wenn keine Wissenschaft mehr wirklich ihre Hypothesen „beweisen“ kann, darf man es auch von ihm nicht erwarten. Eine durchaus legitime Vorgehensweise.

Aber Händler belässt es nicht bei Ausflügen in die Naturwissenschaft. Gesellschaftstheorie ist mit der Soziologie verwandt und damit nicht weit von der Philosophie entfernt. Dabei spielt die Frage nach der Interpretation der Welt als objektiv gegebene oder subjektiv empfundene eine zentrale Rolle. Händler geht dem Gegensatz von Subjektivismus und Objektivismus gründlich nach, angefangen bei Kants „Ding an sich“ bis zu Hegels Weltgeist, bei dem die „Idee“ den Gegensatz der beiden Antipoden auflösen soll. Auch dieser Ausflug steht natürlich im Dienst seiner eigenen Theorie, denn auch die muss sich die Frage nach der objektiven Existenz von Gesellschaft gefallen lassen. Händler fühlt sich dabei in guter Gesellschaft nicht nur bei diesen beiden Geistesgrößen, sondern auch bei den regelorientierten Strukturalisten sowie bei Husserl und Heidegger, die sich alle in der einen oder anderen Form heftig mit dieser Frage auseinandergesetzt haben. Allein die unterschiedlichen Stellungnahmen dieser Denker lassen die Schwierigkeit und grundsätzliche Unentscheidbarkeit sichtbar werden. Händler selbst ist dann mehr Realist, der die Gesellschaft so nimmt, wie sie sich präsentiert, ohne zu tief ins Grundsätzliche zu gehen. Sonst hätte er seine formelbasierte Theorie gar nicht erst entwickeln können.

Detailliert geht er auf die Frage der Kausalität und der Funktionalität im gesellschaftlichen Bereich ein. beiden schreibt er zwar eine logische Verwandtschaft, aber eine entgegengensetzte Wirkungsweise zu und zeigt, dass er vor allem die Funktionalität, mit der etwas bewusst bewirkt wird, in seinen Produktumgebungen abbilden kann.

Auch die Sprache als Fundament menschlicher Gesellschaft(en) erhält ihren Platz bei Händler, ist sie doch konstitutiv für die gesellschaftliche Entwicklung. Hier geht er auf die Auseinandersetzung zwischen Chomsky und anderen Linguisten ein und schlägt sich auf die Seite der letzteren, die Sprache als erlernt und nicht als angeboren betrachten. Erstaunlich auch hier wieder seine Kenntnis dieses komplexen Fachgebietes.

Ein besonderes Augenmerk finden bei Händler die automatisierten Produktionen gesellschaftlicher Entitäten. Dabei spielen Erfindungen eine große Rolle, die sich im späten 20. und im 21. Jahrhundert zunehmend aus dem technologischen Bereich im Sinne einer gewissen Automatik ergeben, anstatt von Individuen getätigt zu werden. Das liegt genau auf Händlers Linie, dessen Modell die Produktion von Produktionsumgebungen in einem rekursiven Sinn ermöglicht. Er zeigt dies an Beispielen wie dem IBM-PC oder Microsoft Office, die beide völlig neue Industrien geschaffen haben, ohne dass dies ursprünglich beabsichtigt gewesen war.

Die Transformation von Gesellschaften von einer Form in eine andere ist ebenfalls ein zentrales Thema bei Händler. Im derben Fall erfolgt diese durch eine explizite Revolution, im Normalfall heute durch neue Technologien oder Intentionen. Dazu kann man wahlweise die westlichen High-Tech-Gesellschaften – „Silicon Valley“ – oder die Demokratisierung der iberischen Halbinsel in den 1970er Jahren heranziehen. Auch Boris Johnsons „Brexit“ stellt eine solche Transformation dar, wird aber bei Händler nicht explizit erwähnt.

Überhaupt hält sich Händler mit Beispielen aus gutem Grund sehr zurück. Zwar veranschaulichen gut gewählte konkrete Beispiele sofort den Sachverhalt, verleihen der Theorie jedoch sofort einen Reduktionscharakter, weil jedes Beispiel eine Einschränkung des Allgemeinen darstellt. Die Stärke von Händlers Theorie ist ihr generischer Charakter, und den gefährdet man mit jedem – politischen, ökonomischen – Beispiel aus der Realität. In seinen Vergleichen mit Sozialtheoretikern wie Bourdieu, Latour oder Luhmann verweist Händler immer wieder auf deren Stärken, aber auch auf ihre Schwächen, die sich meistens aus dem spezialisierten Ansatz erklären. Ein solcher Ansatz erlaubt zwar eine optimale Erklärung des jeweiligen – gesellschaftlichen – Zusammenhangs, lässt sich aber meist nur sehr schwer oder gar nicht auf größere Themenkreise erweitern. Da hat ein generischer Ansatz wie Händlers Produktionstheorie einen großen Vorteil, allerdings zu dem Preis, dass man jede Anpassung an eine konkrete Situation mehr oder minder aufwändig modellieren muss. Man kann dies am besten mit der Entwicklung der IT vergleichen. Die anfänglich reinen Hardwarelösungen für die Lösung bestimmter technischer Probleme lösten diese – aber nur diese! – optimal. Mit der Erfindung des programmierbaren Computers stand zwar mit der Hardware keine Problemlösung zur Verfügung, die ließ sich aber für nahezu jeden Anwendungsbereich per Software realisieren. Und in der Realität hat dieses Konzept unbestreitbar den Sieg davongetragen. Mit Händlers Produktionstheorie könnte die Zukunft der Gesellschaftstheorie einen ähnlichen Umbruch erleben.

Etwas an Händlers Buch ist noch erwähnenswert. Er wendet durchgehend gemäßigtes Gendern ohne Sonderzeichen an. Da ergeben sich dann Sätze wie (sinngemäß): „Der Philosoph oder die Philosophin zieht diesen Ansatz vor, während der Soziologe oder die Soziologin eher dem anderen folgt…“. Systematisch durch das gesamte Buch angewandt, mündet dieses Verfahren in einen umständlichen und geradezu schwerfälligen Stil. Allerdings unterläuft Händler diesen genderfreundlichen Ansatz an mehreren Stellen – bewusst? -, indem er etwa folgenden Satz anschließt: „Der Gesellschaftstheoretiker jedoch sieht das ganz anders…“. Da das gesamte Buch eine unterschwellige, aber präsente humorvolle Ironie durchzieht, könnte man fast vermuten, dass Händler durch dieses Kombination von politisch korrekter Formulierung und gezielter Unterlaufung seinen ironischen Kommentar zum Gendern abgibt. Wer weiß?

Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 286 Seiten und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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