Beethoven und Schubert von türkischen Oppositionshänden

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Der türkische Musiker Fazil Say (* 1970) hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur als Pianist ein hohes Renommé erworben, sondern auch als Komponist – und als aufrechter Oppositioneller gegen die gegenwärtige türkische Regierung. Da passt ein Komponist wie Beethoven natürlich wunderbar ins musikalisch-politische Bild, der seine „Eroica“ erst dem vermeintlichen Revolutionär Napoleon gewidmet und dann deren Trauermarsch in einen kritischen Kommentar zu Napoleons Kaiserkrönung umgewidmet hatte. Beethoven, der Widerständler, gespielt vom aktuellen Bürgerrechtler Say.

Nicht zuletzt durch seine politische Haltung hat Say vor allem bei dem aufgeklärten Bürgertum der Türkei zu Hause und in der „Diaspora“ mittlerweile einen geradezu ikonischen Stellenwert gewonnen. Das schlug sich an diesem Juni-Donnerstag in der Zusammensetzung des Publikums beim 10. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt nieder. Normalerweise dominieren Grau- und Weißköpfe das Publikum der Kammerkonzerte, doch an diesem Tage sah man im gut gefüllten Großen(!) Haus viele junge Menschen, die nicht nur von der Sprache her eindeutig derselben Herkunft wie der Solist des Abends waren. Der Stolz über diesen Ausnahmekünstler aus einem derzeit schwierigen Land schwebte schon lange vor dem ersten Ton des Flügels durch das Staatstheater.

Fazil Say (Quelle: Wikipedia)

Und was servierte dieser orientalische Pianist seinem gemischtem Publikum an diesem Abend? Die westeuropäische Musik des Barock und der späten Klassik! Es begann mit Georg Friedrich Händels Suite d-Moll für Cembalo HWV 437. Für Freunde des Kammermusikprogramms eine besondere Gabe, fristete doch die Barockmusik längere Zeit ein Schattendasein im Musikprogramm des Staatstheaters Darmstadt.

Es wäre unfair, diesen Programmpunkt als bloßen „Warmspiel-Part“ des Konzerts zu marginalisieren, und Say verstand ihn ebenfalls nicht so. Schon hier zeigte sich seine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Musik im Vergleich zu okzidentalen Pianisten. Jene haben weitgehend die eigene Unterordnung unter die Musik im Sinne des „bloßen“ Interpreten verinnerlicht und zeigen dies meist durch hohe Disziplin hinsichtlich Körpersprache, Gestik und Mimik. Nicht so Fazil Say, der die dynamischen Wechsel der von ihm interpretierten Musik mit intensiver Körpersprache unterstreicht, und zwar nicht gelegentlich, sondern fortwährend. Die Tastatur des Flügels schaut er selten an, da seine Finger Notenfolge und Tastenlage eigenständig beherrschen. Meist schaut Fazil Say nach rechts in Richtung Publikum, wobei er jedoch den Blick wie in Trance auf den Boden richtet. Oder er beugt seinen Kopf bei besonders intensiven Stellen fast bis zu den Tasten hinunter und beißt sich emotional förmlich in das Instrument hinein. Dann wieder nimmt er die freie Hand – eventuell dort liegende längere Noten hält er über das Pedal – und unterstreicht den musikalischen Gang mit Gesten des Armes wie ein Dirigent. Auch seine Mimik folgt dem Duktus der Musik und bringt die jeweilige Grundstimmung zum Ausdruck. Das gelingt ihm erstaunlicherweise ohne jeglichen Hauch falscher Sentimentalität. Keine sehnsüchtig gen Himmel gerichtete Augen oder vordergründiger Trotz, sonders alles im Rahmen einer nachvollziehbaren Interpretation der Musik. Man versteht anhand seines Vortrags sofort, warum er zur Ikone einer ganzen Generation wurde.

Nach der frisch und durchaus nicht nur mit barocker Gravität interpretierten Händel-Suite ging es fast ohne Übergang – Say verbeugt sich nach einem Stück nur kurz und dann ironischerweise mit einem Pokerface – zu Beethovens „Mondschein“-Sonate in cis-Moll. Diese interpretierte Say durchaus im Rahmen des okzidentalen Interpretations-Kanons, sowohl hinsichtlich Tempi als auch Dynamik. Jedoch gestaltete er vor allem die Ritardandi und Fermaten ausdrucksstark und mit ausgeprägter Dauer. An diesen Beispielen und auch an der Intensität bestimmter Passagen konnte man seine starke musikalische Emotionalität erkennen. Er erwies den musikalischen Gewohnheiten des europäischen Westens zwar durchaus seine Reverenz und bewegte sich in ihren anerkannten Grenzen, nutzte diese aber nach Möglichkeit zur eigenen Akzentuierung aus. Das einleitende Adagio zeigte zwar keine Auffälligkeiten, war aber von einem intensiven Anschlag und eigenwilliger Gestaltung geprägt. Das Allegretto nahm er anmutig, wie man es kennt, und beim Presto ließ er nicht nur seiner perfekten Technik, sondern vor allem seiner überbordenden und dennoch kontrollierten Emotionalität freien Lauf. Die Behauptung, er habe sich hierbei in einen Rausch gespielt, wäre durchaus nicht fehl am Platze.

Im Gegensatz zum Programmheft präsentierte Say im Anschluss an Beethoven noch ein eigenes Werk, das sich vor allem durch Rhythmus und dichte Klangräume auszeichnet. Das überraschend tonale Werk erinnert bisweilen an das 19. Jahrhundert, dann wieder an die harmonischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts und an experimentelle Klangbildung, etwa, wenn Say mit einer Hand direkt die Saiten im Flügel dämpft. Diese äußerst dichte und anspruchsvolle Musik ist dennoch nie inkompatibel mit einem der neuen Musik nicht unbedingt kundigen Publikum. So war denn auch der Beifall zur Pause mehr als einhellig und erreichte fast schon die Fülle eines Schlussapplauses.

Als letzter Programmpunkt stand Franz Schuberts B-Dur-Sonate D 960 (posthumus) auf dem Programm. Say begann sie erstaunlich schnell, aber die generelle Steigerung der Tempi ist wohl auch eine Zeiterscheinung. Und auf die Wiederholung der Exposition verzichtete er ganz, damit Brendels entsprechende Überlegungen in den Wind schlagend. Aber natürlich gibt es – besonders bei einem Stück dieser Länge – gute Gründe für diesen Verzicht, bietet doch die Durchführung des ersten Satzes noch ausreichend Gelegenheit, das Thema von allen Seiten kennenzulernen. Dem zweiten Satz mit seinen hingetupften Übersteiger-Tönen der linken Hand verlieh er durch bewusst reduziertes Tempo und dadurch betonteren Anschlag besondere, fast düstere Intensität. Das Scherzo trug Say mit einer bei Schubert seltenen Leichtigkeit vor, die dieser Sonate zumindest für die Dauer eines Satzes den Charakter von Freiheit und Optimismus verlieh. Dafür steigerte er den letzten Satz trotz der Bezeichnung „Allegro, ma non troppo“ nach moderatem Beginn noch einmal zu einem Feuerwerk des Aufbegehrens. Über die technischen Fähigkeiten eines Pianisten muss man bei diesem Niveau nicht mehr reden, aber die Selbstverständlichkeit des Anschlags und der Präzision trotz höchster Tempi und komplexer Läufe ist doch immer wieder überwältigend.

Der Beifall des Publikums kam derart spontan und begeistert, dass sich Fazil Say nicht lange um eine Zugabe bitten ließ. Noch einmal kam eine eigene Komposition zum Zuge, die ganz ähnlich wie das Stück am Ende des ersten Teils klang. Da jedoch in beiden wiedererkennbare Themen und Motive keine Rolle spielten, ließ sich nicht sagen, ob es sich – ähnlich dem Jazz – „nur“ um eine Variation des ersten Stücks oder um ein eigenständiges Werk handelte. Doch das spielt letztlich keine Rolle, weil es hier noch einmal um die kompositorischen wie um die pianistischen Fähigkeiten des Solisten ging.

Frank Raudszus

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