Miranda Cowley Heller: „Der Papierpalast“

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Dieser Roman, hier als Hörbuch vorgestellt, besteht aus zwei eng miteinander verbundenen Geschichten: einmal die Biographie einer Frau, die um 1970 in New York der USA zur Welt kam, einschließlich der Familiengeschichte vor ihrer Geburt, andererseits ihre Zerrissenheit zwischen einem glücklichen Familienleben mit perfektem Ehemann und Kindern einerseits und ihrer Jugendliebe andererseits, von der sie bis zur Handlungszeit des Romans nicht loskommt.

Die Handlung wird aus zwei Perspektiven erzählt. Der Rahmen spielt in der heutigen Zeit, in der die Ich-Erzählerin Elle um die Fünfzig ist. Sie ist in New York aufgewachsen und mit einem englischen Journalisten verheiratet, der alle Kriterien für einen guten Ehemann und Vater erfüllt. Ihre drei Kinder – vom Teenager bis zum Grundschulkind – sind, abgesehen von typischen Pubertätsproblemen, wohlgeraten, und auch ihre alleinstehende Mutter steht noch mit beiden Beinen in einem durchaus eigenwilligen Leben. Den Sommer verbringt die ganze Familie in einem Ferienhaus an einem kleinen See dicht an der Ostküste Neu-Englands. Der scherzhafte Name dieser Sommerbehausung und gleichzeitig Titel des Romans, „Papierpalast“, bezieht sich auf die bauliche Schlichtheit des weitgehend aus Pressspan oder ähnlichen Materialien bestehenden Gebäudes. Elles Mutter hatte dieses einfache Anwesen einst von einem geschiedenen Ehemann geerbt, und die Kinder haben dort jeden Sommer in herrlicher Freiheit verbracht. Elle setzt diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fort.

Es könnte alles wunderbar sein, wäre da nicht die belastende Vergangenheit. Elle hatte als junges Mädchen dort den jüngeren Jonas kennengelernt, mit dem sie entspannte weil nicht erotisch angehauchte Sommertage verbrachte. Dass dieser Junge schon früh andere Gefühle entwickelte, ahnte sie damals nicht. Doch dann änderte sich in Elles Familie die Situation, und es wurde, ohne hier mehr verraten zu wollen, vor allem für Elle und ihre Schwester Anna schwierig. Elle gerät in eine dramatische und schambesetzte Opferrolle, aus der sie letztlich Jonas auf Kosten einer gemeinsamen Schuld befreit.

Die Rahmenhandlung beginnt mit einem spektakulären erotischen „Aussetzer“ der Ich-Erzählerin während einer abendlichen Einladung. Die nächsten sechsunddreißig Stunden bestehen für Elle in einer einzigartigen Aufarbeitung dieses Aussetzers und seiner Vorgeschichte. Dazu geht sie in ihre Kindheit und Jugend zurück und rekapituliert geradezu minutiös alle familiären Beziehungen und vor allem Katastrophen. Die Rahmenhandlung geht dabei buchstäblich nur schrittweise voran, während die Rückblende Jahrzehnte abhandelt. Dabei stellt sich heraus, dass schon Elles Eltern – und deren Eltern – auf scheiternde Beziehungen und Ehen zurückblickten und ein höchst fragwürdiges Patchwork zurückließen. Dass sich mit neuen Beziehungen auch neue Personen und damit Probleme in die Familienstruktur einnisteten, versteht sich dabei von selbst.

So wie sich die Handlung und deren Folgen vor Jahrzehnten in der Rückschau zuspitzt und nach einer Lösung verlangt, treibt auch Elles gegenwärtige Situation einer dramatischen und folgenschweren Entscheidung zu. Wenn sie gegen Ende mit nüchtern-pragmatischem Sinn und brennendem Herzen alles bedacht und eingeordnet hat, bahnt sich ein nachvollziehbarer Entschluss an. Doch buchstäblich im letzten Satz dreht die Autorin alles durch wenige Worte um, die man – je nach Gemütslage – als heroische Volte oder als unbedeutende weil nicht metaphorisch interpretierte Petitesse betrachten kann.

Dieser Roman bringt das Lebensgefühl einer ganzen Generation und nebenbei die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Mitte der US-Gesellschaft auf den Punkt. Freiheit ist mit Gedankenlosigkeit gepaart, scheiternde Beziehungen werden als quasi normal – „trial and error“ – betrachtet, ohne die Auswirkungen auf Kinder und Partner zu reflektieren, und gute Laune wird fast zwanghaft als oberstes Lebensprinzip betrachtet, ganz gleich, wie es „da drinnen“ aussieht. Die Sprache – auch eine beachtliche Leistung der Übersetzerin Susanne Höbel – zeichnet sich durch Authentizität aus, wobei besonders das Alter und der Charakter der jeweiligen Figur beachtet wird. An mehr als einer Stelle wird deutlich, dass hier nicht eine Schriftstellerin ihre Figuren nach ihrer sprachlichen Pfeife „tanzen“ lässt, sondern dass diese aus ihrem jeweiligen sozialen Kontext heraus reden.

Der Sprecherin Vera Teltz gelingt es, alle diese unterschiedlichen Charaktere und Befindlichkeiten glaubwürdig zum Ausdruck zu bringen und selbst die teilweise deftige Ausdrucksweise ohne nötigenden Beigeschmack wiederzugeben.

Das Hörbuch ist bei „Hörbuch Hamburg“ erschienen, umfasst zwei CDs und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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