Peter Sloterdijk: „Wer noch kein Grau gedacht hat“

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Ein dem Rezensenten namentlich nicht mehr erinnerlicher deutscher Schriftsteller hat einst eine Farbenlehre entwickelt, die er im Gegensatz zur Nachwelt für eines seiner wichtigsten Werke hielt. Peter Sloterdijk, einer der namhaftesten Intellektuellen des deutschsprachigen Raums, tritt nun in gewisser Weise in dessen Fußstapfen. Allerdings geht es ihm weniger um den Charakter und die Zusammensetzung von Farben im Allgemeinen, sondern er beschäftigt sich vor allem mit der Farbe Grau, und das im metaphorischen Sinn.

Das „Graue“ leidet allgemein unter dem schlechten Ruf des Unangenehmen weil Langweiligen und Aussageschwachen. Redewendungen wie „grauer Novembertag“ oder „grauer Alltag“ sprechen dabei für sich. Doch Sloterdijk bezieht sich zu diesem Thema auf andere Zeugen. Er verweist auf den Maler Cézanne, der gesagt haben soll „Solange man noch kein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“. Diese auf die konkrete Farblandschaft gemünzte Aussage überträgt Sloterdijk versuchsweise auf sein Metier und ändert sie in „Wer noch kein Grau gedacht hat, ist kein Philosoph“. Der provokante Schlussteil dieser Behauptung fehlt im Buchtitel aus guten Gründen, schwingt aber im Inhalt des Buches nach.

Ausgehend von diesem nestbeschmutzenden Verdacht richtet Sloterdijk sein Augenmerk im ersten Kapitel auf die Philosophen, um deren Grau-Affinität zu überprüfen. Aus der großen Zahl der tiefen Denker schaffen es gerade einmal drei in den Endlauf. Das ist jedoch wohl eher exemplarisch als ausschließend zu verstehen. Eine detaillierte Versuchsreihe an jedem in Frage kommenden Philosophen hätte den Rahmen dieses Buches wohl gesprengt. So bleiben nur Platon, Hegel und Heidegger als Beispiele für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Grau.

Bei Platon sieht Sloterdijk bereits den Begriff des (Höhlen-)Schattens als konkreten Fall, da einerseits der Schatten selbst aus „Grau“ besteht und andererseits diese Schatten eben nur schwache sprich: graue Abbilder der Wirklichkeit darstellen. Bei Hegel sind es die Begriffe, die dieser mit zunehmender Analyse und Eingrenzung wachsende Grauwerte annehmen sieht, weil die Dinge doch nicht so einfach liegen, wie man sie im ersten Aufschwung der Idee sieht oder wünscht. Die zunehmende Komplexität selbst scheinbar einfacher Begriffe bei gründlicher Untersuchung führt laut Hegel zwangsläufig zu „grauen“ Abstufungen der anfänglichen Idealvorstellung. Bei Heidegger ist es dann der (graue) Nebel des „In die Welt Geworfenseins“ des Menschen, das durch sein unklares und unverständliches Grau Grauen auslöst. Bei Heidegger ist laut Sloterdijk das „Grau“ sozusagen Programm, da es die hehren Gesetze des Idealismus für ihn so klar wie einst gewünscht nicht gibt.

Nach einer Abschweifung („Digression“) zu Kafkas „grauer“ weil undurchschaubarer Bürokratie geht Sloterdijk zum politischen Grau über. In der Politik konstatiert er erst einmal die kräftigen Farben, etwa das Rot aller Revolutionen, angefangen bei der von 1789, um dann zu dem Phänomen der „grauen Eminenzen“ zu kommen, das sich bereits im „ancient regime“ Frankreichs ausgebreitet hatte. Dieses spezielle Grau meidet die Farben der Öffentlichkeit und leitet im verschwiegenen Hintergrund die entscheidenden Entwicklungen ein. Die „grauen Eminenzen“ spielen bis in die Neuzeit eine wesentliche Rolle, die per definitionem natürlich nie wirklich öffentlich wird. Im besten Falle wird sie im Nachhinein publik, wenn sich die politischen Konsequenzen auf die ein oder andere Weise ergeben haben.

Natürlich kommt auch der „real existierende Sozialismus“ à la DDR oder UdSSR aufs Tapet, denn hier wurde das Grau nicht nur in der kohlegeschwängerten Luft produziert. Es bildete geradezu die Richtschnur allen politischen Handelns in den sozialistischen Ländern, mit dem impliziten Ziel, sowohl den Klassenfeind als auch die eigene Bevölkerung im grauen Zweifel über die wahren Zustände und Absichten zu belassen. Selbst das satte sozialdemokratische Rot oder das komplementäre Farbpaar Rot-Grün nehmen stetig wachsende Grautöne an, von dem bleiernen Grau einer ursprünglich schwarzen Kanzlerschaft nach sechzehn Jahren ganz zu schweigen. Das kommt bei Sloterdijk jedoch nicht als publikumswirksame Polemik daher, auch wenn sein pointierter Stil dies zeitweise suggeriert, sondern ist gut hergeleitet und mit treffenden Beispielen oder Analysen belegt.

Auch die biblische Schöpfung lässt bei Sloterdijk Federn. Die Genesis ist voller Widersprüche, und die göttliche Anordnung „es werde Licht“ wirft laut Sloterdijk viele Fragen über den Zustand und die Deutungshoheit vor ihrer Verkündigung auf, denn vor dieser Anordnung muss der Schöpfer ja ein Herr der Finsternis gewesen sein, die damit Erstgeburtsrechte hätte. Auch hier versinken die markigen Sprüche der Schöpfungsgeschichte im Grau der Zeit und der Zuständigkeiten. In späterer Zeit kommt die theologische Unterscheidung von Himmel(Paradies) und Hölle und der endgültige Verbleib der Seelen nach dem Jüngsten Gericht hinzu. Und das – temporäre – Fegefeuer nimmt zwischen diesen beiden Endwerten der Ewigkeit – das Schwarz(-Rot) der Hölle und das Weiß(-Blau) des Paradieses – einen gewissen Grauwert an, der laut Sloterdijk weniger dogmatisch als populistisch begründet war.

Dann lässt Sloterdijk in einem Gedankenexperiment auch noch Hegel die Photographie kennenlernen und sich sarkastisch-kritisch über diese neue Technik auslassen, die – offiziell als „Schwarz-Weiss-Abbbildung“ bezeichnet, in Wirklichkeit nur eine Abstufung von Grauwerten liefert. Mit der ausführlichen Behandlung dieser Bild-Erstellung geht Sloterdijk dann zu naturwissenschaftlichen und schließlich ästhetischen Aspekten der Grautöne über. Das Festhalten aller, auch unwichtiger Einzelheiten und die zwangsläufige Bindung an einen beliebigen Moment widersprachen allen bis dahin üblichen ästhetischen Maßstäbe für die Bildkomposition. Doch gerade diese Aktualität schuf neue künstlerische Räume, wie etwa das Kino und das Fernsehen, in denen gerade die realitätsgetreue Abbildung der „grauen“ Realität des Augenblicks eine neue, per definitionem graue Bilderwelt schuf, die auch die kleinen, unwichtigen und damit „grauen“ Details mit ins Bild brachte.

Auch die Literaten befragte Sloterdijk nach ihrer – metaphorischen – Sicht der Farbe Grau. Der berühmte Vers „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ fällt dabei erstaunlich spät, wird dann jedoch entsprechend gewürdigt. Daneben kommt Theodor Storms „Graue Stadt am grauen Meer“ als Huldigung des Graus in Spiel, Adalbert Stifters Grauen vor dem weißlichen Grau eines Schneesturms sowie Jules Michelets Schilderung eines Sturms an der Atlantikküste. Eine ganz andere Seite des Grau, nämlich die apokalyptische, hebt Sloterdijk in dem Buch „Die Straße“ des US-Schriftstellers McCarthy hervor, der die von der Not getriebene Wanderung von Vater und Sohn durch eine nuklear verwüstete Endzeitlandschaft beschreibt.

Natürlich darf auch hier Nietzsche als eine von Sloterdijks Kristallisationsfigur nicht fehlen, obwohl man ihn eher am Anfang bei den Philosophen vermutet hätte. Bei ihm sieht Sloterdijk das Grau in den Felsformationen der Alpen mit allen seinen Schattierungen des Unnahbaren, Unerschütterlichen und Zeitlosen charakterisiert. Und auch Goethes (!) „Farbenlehre“ kommt zu Wort, die jedoch laut Sloterdijk dem Grau keinen besonderen Wert zumisst, sondern vor allem das Weiß („mehr Licht!“) – im Gegensatz zum Naturwissenschaftler Newton – als elementare und damit höchstwertige Farbe betrachtet.

Im letzten Kapitel spielt bei Sloterdijk noch einmal die Religion eine graue Rolle, wenn auch mit verallgemeinerten Konsequenzen. Ausgehend von der apokalyptischen Offenbarung des Johannes mit ihren ekstatischen Forderung an die – nicht nur – christliche Menschheit kommt er auf die „Lauheit“zu sprechen, die Johannes dort als eine der größten Sünden geißelt. Da diese, hier religiös gemeinte, Lauheit nicht nur wegen des Reims eine enge Verwandtschaft zum Grau aufweist, weist sie den Weg zu Sloterdijks Thema. Ihre Stellung zwischen den ekstatischen Extremen der absoluten Gottesbejahung und -verneinung trug ihr bis in die Moderne einen negativen Ruf ein. Noch heute rügt mancher hochrangige Theologe diese Haltung. Doch im säkularen Bereich änderte sich die Bezeichnung nicht zuletzt durch die religionskritischen Philosophen von „grau“ in „indifferent“. Auch die Indifferenz handelte sich, nun eher im politischen Bereich, bald den Ruf der Gleichgültigkeit, ja: Interesselosigkeit ein. Sloterdijk zeigt anschaulich den ambivalenten Werdegang dieses Begriffs, der vor allem in der Moderne einen eher neutralen Charakter annahm, und das laut Sloterdijk aus guten Gründen. Erlaubte doch erst diese Indifferenz eine gewisse Toleranz gegenüber Abweichlern, die man früher als Ketzer gebrandmarkt hätte. Diese Toleranz, ob nun aus Überzeugung oder Gleichgültigkeit geboren, bildet für Sloterdijk letztlich die Grundlage für die neuzeitliche Zivilisation und heutige bürgerliche Gesellschaft. Ohne eine gewisse „Gleich-Gültigkeit“ widerstreitender Weltanschauungen ist ein einigermaßen friedliches Zusammenleben überhaupt nicht möglich. So lässt Sloterdijk am Ende seine Leser mit der offenen Frage alleine, ob nun das Grau zwischen den leidenschaftlichen Überzeugungen eine beklagenswerte oder eine letztlich überlebenswichtige Eigenschaft der Gattung Mensch ist.

Sloterdijk hat in diesem Buch einen scheinbar nebensächlichen, eben „grauen“ Begriff in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, und das in einer Zeit, in der wieder – aus aktuellen Gründen – die absoluten Anschauungen in den Vordergrund rücken und mit wachsender Verve vertreten werden. Er zeigt die Eigenschaften und die Konsequenzen dieses „Graus“ in allen wesentlichen Lebensbereichen auf und überlässt es letztlich den Lesern, sich dazu eine Meinung zu bilden. Damit übt auch er sich in gewissem Sinn am Schluss in einer hoffentlich fruchtbaren „Indifferenz“.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 286 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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