Charles Lewinsky: „Sein Sohn“

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Zwei Totengräber heben ein Grab aus. Sie haben gut zu tun, denn die Cholera wütet im Frankreich des Ancien Régime und fordert viele Opfer. Charles Lewinsky bereitet die Leser bereits auf den ersten Seiten auf harte Kost vor. In der zweiten Szene beschreibt er eine echte Geburt im Hörsaal der Universität, sozusagen als Lehrmaterial. Während der Professor der – natürlich nicht narkotisierten – Gebärenden in den Unterleib greift, schreit diese vor Schmerzen. „Wie eine Sau beim Metzger“, merkt der Autor lakonisch an. Es waren keine leichten Zeiten für die Menschen; ein täglicher Kampf ums Überleben.

So geht es auch Louis Chabon, der als Säugling in einem Waisenhaus abgegeben wird, Ein Franzosenbalg, wie man so sagt, aber das Kostgeld wurde gleich für achtzehn Jahre im Voraus bezahlt. Da zögert die Mutter Oberin im Mailänder Martinitt nicht lange und nimmt den Säugling auf. Eine Amme wird sich wohl finden lassen.

Als Louis sechs Jahre alt ist, wird er von den älteren Jungs täglich verprügelt und erniedrigt. Er wehrt sich nicht, sondern erduldet jede Schmach, bis er als Zwölfjähriger als Diener zu einem Marchese geschickt wird. Hier endlich hat sein Leid ein Ende, denn der Marchese bringt ihm Benehmen und Lebensweisheiten bei. Schließlich übt er mit Louis sogar, wie man sich selbst verteidigt. Doch leider verstirbt der Marchese bald, und Louis muss zurück ins Waisenhaus. Dort setzt er seine neu erworbenen Fertigkeiten ein und verprügelt seinen schlimmsten Folterknecht nach Strich und Faden. Um nicht alle anderen Jungs zu Feinden zu haben, verlässt er noch in der selben Nacht das Waisenhaus Martinitt.

Wie er sich täglich durchschlägt, am Leben lernt und sich schließlich mit fünfzehn Jahren bei der französischen Armee verpflichtet, davon handelt der Roman. Nur so viel: er überlebt den Krieg, findet sogar zu einer bürgerlichen Existenz, bis er sich schließlich auf die Suche nach seinen Eltern begibt. Die Mutter findet er bald, aber die ist schon lange geistig verwirrt, weil sie es nicht verkraftet hat, dass man ihr den kleinen Louis als Säugling weggenommen hatte. Aber wer ist der Vater? Könnte es der französische König Louis Philippe sein, der in jungen Jahren angeblich viele Dienstmägde geschwängert hatte? Wie besessen und natürlich erfolglos versucht er, beim König vorzusprechen. Dabei verspielt er allerdings sein eigenes, angesichts seiner Herkunft durchaus erfolgreiches Leben, denn als er schließlich merkt, dass er einem Phantom nachgejagt ist, ist es für ihn zu spät.

Charles Lewinsky hat einen beeindruckenden Roman über den Lebenskampf eines unglücklichen Menschen geschrieben, dem seine große Lebenssehnsucht, die Elternliebe, nicht vergönnt war. Leider hat der Protagonist bei seiner Suche selbst wieder Frau und Kinder im Stich gelassen, und auch seine Kinder werden die Sehnsucht nach dem Vater als ständigen Begleiter haben. Tragischerweise wiederholen sich gerade auch die negativen Lebensmuster. So vermittelt der Roman keine hoffnungsvolle Botschaft, sondern erzählt von einem Leben, das von Geburt an zum Scheitern verurteilt ist.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 367 Seiten und kostet 25 Euro.

Barbara Raudszus

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