Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

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Dieses Buch trägt keine Gattungsbezeichnung, und das liegt nicht nur daran, dass es keine klassische Handlung aufweist oder andere typische Merkmale von Prosa oder Poesie vermissen lässt. Am ehesten könnte man es noch als Tagebuch bezeichnen, da es geschickt Fakten und Fiktion vermischt. Den Titel sollte man wörtlich nehmen und nicht metaphorisch deuten, denn von Schirach erwähnt zu Beginn, dass er morgens zwischen neun und zwölf Uhr zu schreiben pflege und den Nachmittag anderen Beschäftigungen widme. Diese sind – im weitesten Sinne – Thema des vorliegenden Buches.

In dem Buch stellt sich von Schirach selbst als reale Person in den Mittelpunkt, das heißt, der Ich-Erzähler ist keine fiktive Person, sondern ganz offensichtlich Ferdinand von Schirach selbst, wenn er sich auch selbst nie beim Namen nennt. Dadurch erhalten natürlich all die geplanten oder zufälligen Gespräche mit anderen Menschen zumindest implizit realen Charakter. In sechsundzwanzig Kapiteln, die einfachheitshalber mit aufeinanderfolgenden Nummern der „Nachmittage“ übertitelt sind, schildert er entweder die Gespräche mit seinen verschiedenen Partnern, teilweise auch in direkter Rede, oder reflektiert über aktuelle oder kontrastierende gesellschaftliche Ereignisse, die ihm aus den Medien entgegentreten.

Das Niveau seiner Gesprächspartner und der Dialoge ist durchweg hoch, die typische Mittel- oder gar Unterschicht spielen hier keine Rolle. Er trifft – angeblich während seiner ausgiebigen Lesereise – zufällig alte Bekannte oder kulturell wie gesellschaftlich höher stehende Menschen, mit denen er dann sehr schnell geradezu existenzielle Gespräche führt. Das lässt wieder auf einen fiktiven Charakter schließen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass man in Restaurants, Hotels oder im Publikum einer Lesereise nur intellektuell hoch stehende Zufallsbekanntschaften bzw. entsprechende alte Freunde trifft, ist doch eher gering. Außerdem sind mit diesen Gesprächspartners stets außergewöhnliche Biographien verbunden, die geradezu romanhaft wirken.

Da ist der bodenständige und hoch angesehen Uhrenfabrikant, der lange ein Doppelleben führt und spät eine schwere Schuld eingesteht. In einem anderen Fall trifft von Schirach bei der Beerdigung eines alten Freundes eine fremde Frau, die ihm nicht nur ihre wechselhafte Lebensgeschichte mit einem Aufstieg aus der Gosse erzählt, sondern auch noch die Reputation des gemeinsamen Freundes zerstört und eigene Schuld eingesteht. Diese beiden Fälle sind als konkrete Erinnerungen insofern kritisch, da sie auch bei mäßiger Verfremdung mit dem Schweigegebot des Anwalts von Schirach kollidieren müssten. Sind es also fiktive, aus Zeitungsberichten verfertigte Geschichten?

Doch immer wieder berichtet von Schirach über echte Lesereisen in echten Städten, die auf Authentizität schließen lassen, und von Gesprächen mit seinen Zuhörern, in denen diese ein Stück ihres jeweils eigenen, oft bewegten oder gar tragischen Lebens ausbreiten.

Ob nun authentisch oder ausgedacht: auf jeden Fall bringen all diese Lebensgeschichten und Gespräche bestimmte Probleme, Ängste und Sehnsüchte von Menschen beider Geschlechter, unterschiedlicher Herkunft und typischer Lebensgeschichten zum Ausdruck. Und dabei zeigt von Schirach seine hohe Kunst, diese Biographien mit all ihren Facetten glaubhaft, ohne falsche Sentimentalität und – fast – ohne den moralischen Zeigefinger zu beschreiben. An einigen Stellen wirkt dann die eigene – abgeklärte – Welterkenntnis zwar doch etwas aufgesetzt wenn nicht gar selbstgefällig, aber diese Stellen sind glücklicherweise eher selten. Das Buch zeichnet sich durch seine abwechslungsreiche Thematik und die überwiegend glaubwürdige und tief gehende Beleuchtung der derzeitigen conditio humana aus.

Es ist im Luchterhand-Verlag erschienen, umfasst 175 Seiten und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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