Mariette Navarro: „Über die See“

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Dieser Roman der jungen französischen Schriftstellerin und Dramaturgin entwickelt bei einer denkbar schlichten Handlung eine existenzielle, surreale Atmosphäre, die elementare Urängste des Menschen weckt. Das bewirkt die Autorin mit geringsten stilistischen Mitteln, ganz ohne pathetische oder (pseudo-)philosophische Worte oder Gedankengänge. Allein die knappe Skizzierung der handelnden Personen und ihre innere Verfasstheit, ausgedrückt durch teilweise irrationale Handlungen, reicht, um diese Wirkung zu erzielen.

Ein Frachter ohne Namen, befehligt von einer ebenfalls namen- und alterslosen Kapitänin, überquert den Atlantik von Frankreich nach Mittelamerika. Mitten auf hoher See beschließt die Besatzung, mit Einverständnis der Kapitänin, geschlossen ein Bad im Meer zu nehmen. Die Männer verlassen das gestoppte Schiff per Beiboot und genießen das seltsame Bad, während die Kapitänin von Bord aus zuschaut. Angesichts des träge sich wiegenden Wassers und des endlosen Horizonts drängen sich bei ihr die seltsamsten Gedanken und Assoziationen in den Vordergrund, bis hin zu der Vorstellung, einfach weiterzufahren und die Männer ertrinken zu lassen. Natürlich sind das nur Gedanken, die bald wieder verfliegen.

Ist diese Situation schon etwas surreal, so steigert sie sich noch dadurch, dass die Kapitänin im Wasser einundzwanzig Köpfe statt der offiziell an Bord befindlichen zwanzig zählt. Wer jetzt einen Krimi über einen blinden Passagier erwartet, sieht sich getäuscht. Dieser überzählige Mann geistert eher durch ihren Kopf als über das Schiff, denn er ist an Bord nicht auffindbar. Wie eine Mahnung ob der ungeplanten Badepause schwebt er über dem Schiff. In einer Szene meint die Kapitänin sogar, ihn in einer dunklen Kabine ausgemacht zu haben, und spricht ihn an. Bei Licht besehen ist der vermeintliche Mensch ein Haufen Lumpen.

Doch dabei bleibt es nicht. Kurz nach dem Bad legt sich ein nie gesehener Nebel über das Schiff, so dass man selbst die eigene Hand nicht vor Augen sieht. Das Schiff verweigert die Weiterfahrt, und im Maschinenraum sucht man fieberhaft nach dem Grund. Trotz einwandfreier Technik und laufender Maschine bewegt sich das Schiff kaum, und wenn, dann mal schneller und mal langsamer. Der leitende Ingenieur meint sogar, in dem Bewegungsmuster musikalische Elemente zu entdecken.

Diese irrationale Situation lässt sich als weit gespannte Allegorie deuten. Die Weite des Meeres repräsentiert dabei die Unbegrenztheit und Gefährlichkeit des Lebens, und das Schiff die Behausung für die Menschen. Nur dort – in der Gesellschaft – können sie in überschaubaren Verhältnissen leben. Der zusätzliche Mann lässt sich als die nicht fassbare Spiritualität inklusive moralischer Kategorien wie Schuld oder Verantwortung deuten. Der Nebel wiederum spiegelt die existenzielle Verunsicherung des menschlichen Daseins wider. Ausgelöst wurde dieser Zustand von der Badepause, die – wie die Erbsünde im Paradies – feste Konventionen verletzte. Man denkt spontan an Kafkas Nachtglocke, die das Unwiderrufliche eines Versäumnisses zum Ausdruck bringt.

Doch das sind nur subjektive Deutungsversuche. Navarro hütet sich, ihren Allegorien und Metaphern – als die sie zweifellos gemeint sind – irgendwelche konkreten Bezüge zur gesellschaftlichen Realität mitzugeben, da diese der Plattheit Tor und Tür öffnen würden. Sie schafft – geradezu poetisch – nur die allegorische Atmosphäre, die sich wie der besagte Nebel über den Text legt und den Lesern die Deutung selbst überlässt.

Auch ihren Protagonisten verleiht sie bewusst keine konkreten Charaktermerkmale. Von der Kapitänin weiß man nur, dass schon ihr Vater Kapitän war und nach seiner letzten Fahrt nie mehr gesprochen hat. Eine schwere Schuld? Es bleibt offen. Auch ihr Privatleben einschließlich Familie und Erotik ist nicht existent. Deswegen ist sie jedoch nicht die übermotivierte Karrierefrau oder gar Feministin mit seelischen Traumata. Sie ist nur die Kapitänin. Der Erste Offizier ist ebenfalls nur Funktionsträger, vorbildlich und fürsorglich, doch mehr nicht. Hier werden keine psychischen Grenzerfahrungen mit entsprechendem sozialen Hintergrund verhandelt, hier werden die tiefsten (Ab-)Gründe der Seele ausgelotet. Da diese, wie im Meer, im Dunkeln liegen, kann und – eben deshalb – darf man sie nicht benennen. Man kann sie nur fühlen, und dieses Fühlen schlägt sich in Ruhelosigkeit und irrationalen Gedankengängen nieder.

Dabei übertreibt die Autorin nie, getreu dem puristischen intellektuellen Ansatz der französischen Literatur. Sie erliegt in keinem Augenblick der Versuchung, diese Ruhelosigkeit und existenzielle Angst wortreich zu bebildern, um damit die sentimentale Seite der Leserschaft zu erreichen. Diese soll die Befindlichkeit der Protagonistin nicht logisch verstehen, sondern tief im Inneren nachempfinden. Jeder Mensch hat schon Anflüge solch existenzieller Ängste erlebt, vielleicht, wegen aktiver Verdrängung, ohne Erinnerung daran. Navarro will mit diesem Roman diese Erinnerungen wieder wecken und daraus positives Verarbeitungspotential freisetzen.

Die kleinen Schwächen dieses Romans, vor allem im seemännischen Sprachgebrauch oder bei Fakten – der Frachter hat „tausende Kilometer Wasser unter dem Kiel“ (statt Meter) – haben dabei sogar verstärkende Wirkung im Sinne des Romans, denn sie verleihen auch der fiktiven Realität an Bord surreale Züge. Ob das beabsichtigt war, bleibt dahingestellt, doch es passt.

Das Buch ist im Kunstmann-Verlag erschienen, umfasst 157 Seiten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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