Alex Schulman: „Verbrenn all meine Briefe“

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Nach dem Erfolg des 2021 erschienenen Romans „Die Überlebenden“ liegt nun auch der bereits 2018 auf Schwedisch erschienene Roman „Verbrenn all meine Briefe“ von Alex Schulman in der deutschen Übersetzung von Hanna Granz vor.

Schon in diesem Roman erweist sich Schulman als ein Meister der Komposition. Auf drei Zeitebenen entfaltet er die Geschichte seiner Familie. Anlass ist die dem Erzähler (dem Autor selbst?) innewohnende unbeherrschbare Wut, die seine Beziehung zu zerstören droht. Eine therapeutische Familienaufstellung verweist auf Konflikte in der mütterlichen Linie, die sich in der Familie weiterzuvererben scheinen. So entschließt er sich nachzuforschen, was dahintersteckt, um damit auch herauszufinden, was mit ihm in dieser Familie geschehen ist.

Im Zentrum der Nachforschungen steht die Beziehung seines Großvaters Sven Stolpe und seiner Großmutter Karin. Sven Stolpe war ein bekannter schwedischer Schriftsteller, Essayist und Kolumnist (1905 – 1996), Karin Stolpe (1907-2003) war Übersetzerin vom Französischen ins Schwedische.

Der Roman ist ein Zwitter aus biographischen Quellen zu den Großeltern und eigenen Erinnerungen. Das alles setzt Schulman zusammen zu einer großen Erzählung, in der er Leerstellen mit eigenen Erzählungen füllt, die das Material interpretieren und schildern, wie sich die Ereignisse zusammenfügen könnten, wie es gewesen sein könnte.

Die historische Ebene ist der Sommer 1932. Sven und Karin sind seit einem Jahr verheiratet, sie ist 25, er 26 und schon ein erfolgreicher Schriftsteller, nach außen ein ideales, attraktives Paar. Sven ist Gast bei einer Stiftung in der Nähe von Sigtuna am Mälarensee, wo er ungestört schreiben kann. Hier trifft man auch mit anderen jungen Schriftstellern und Schriftstellerinnen zusammen, die meisten aber noch nicht so avanciert wie Sven Stolpe

Die Erzählgegenwart ist das Jahr 2017, in dem sich der Autor/Erzähler auf die Spuren seiner Großeltern begibt. Er findet heraus, dass aus anfänglicher großer intellektueller Nähe schon nach nur einjähriger Ehe eine asymmetrische Beziehung entstanden ist, in der Sven die Macht über seine Frau übernommen hat. Dahinter steckt ein überholtes Frauenbild, das die sogenannte „Reinheit“ der Frau beschwört und einer Frau jegliche vorehelichen sexuellen Kontakte verbietet. Für den nachforschenden Enkel ergibt sich ein ganz anderes Bild des Großvaters, den er als skurrilen Sonderling in Erinnerung hat, über den es viele schnurrige Legenden in der Familiengeschichte gibt.

Die dritte Zeitebene ist das Jahr 1988, in dem der 12-jährige Alex bei den Großeltern zu Besuch ist und einige für ihn verwirrende Situationen mit den Großeltern erlebt.

Einmal auf die Fährte gesetzt, ist der Erzähler besessen davon, mehr zu erfahren. Er vergräbt sich in die Texte seines Großvaters, die alle im Archiv der Sigtuna-Stiftung aufbewahrt werden. Er liest alle Romane und Stücke, bis er darauf kommt, dass Sven Stolpe offenbar immer wieder nur über Karin geschrieben hat, sie ist die ehrlose, unreine Frau in seinen Texten. In Tagebuchnotizen taucht immer wieder das geheimnisvolle Kürzel OL auf, das er schließlich als Kürzel für den ebenfalls sehr bekannten schwedischen Autor Olof Lagercrantz (1911 – 2002) entschlüsselt. Das bringt einen neuen Schub in Alex‘ Nachforschungen. Im Olofs Nachlass befinden sich Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, aus denen klar wird, dass sich Karin Stolpe und der damals 21jährige Olof im Jahr 1932 in Sigtuna begegnet sind und sich heftig ineinander verliebt haben.

Wie ein Krimi liest sich, was Alex Schulman nun über das Schicksal dieser Liebe zusammenträgt. Sven Stolpe droht seiner Frau mit Gewalt und öffentlicher Verleumdung, sollte sie jemals auf die Idee kommen, ihn zu betrügen oder ihn zu verlassen. Die Ehe wird für Karin zu einem Gefängnis, in dem sie immer kleiner wird und zunehmend verstummt. Sie wird zu einer Frau, die sich dafür verachtet, dass sie ihr früheres Selbst aufgegeben hat und sich diesem Mann unterworfen hat. Angst prägt ihr ganzes Leben.

Alex Schulman gelingt es auf einzigartige Weise, uns mitzunehmen auf seine Reise in die Vergangenheit. Es schnürt sich alles zusammen, wenn man Olofs Tagebucheintragungen und seine Briefe an Karin liest. Sie sind wahre Oden an die Liebe, die mit der Glut eines 21jährigen geschrieben sind, der an Tuberkulose erkrankt ist, von den Ärzten schon fast aufgegeben wird, aber aus dieser Liebe alle Lebenskraft schöpft. Tatsächlich wird er 91 Jahre alt werden. Sein bedeutendes lyrisches Werk interpretiert Alex als metaphorisch verklärte Anbetung seiner großen Liebe Karin.

Sven Stolpe hingegen, der bewunderte Schriftsteller, entpuppt sich aufgrund des Quellenmaterials immer mehr als eine narzisstische Persönlichkeit, die nur Hass und Unfrieden verbreitet und damit seine ganze Familie vergiftet.

Für Alex selbst ist diese Odyssee in die Geschichte seiner Großeltern eine Reise zu sich selbst. In dem Familienhass sieht er seine eigene unbeherrschbare Wut begründet. Ob es ihm gelingt, den Teufelskreis der Weitergabe von Hass und Wut zu durchbrechen, muss die Zukunft bringen. Das Ende seiner  Nachforschungen sieht er als einen Neubeginn seiner eigenen Geschichte.

Während der Lektüre fragt man sich als Leserin, warum ein Mensch so werden kann, wie es mit Sven Stolpe geschehen ist. Ganz zum Schluss gibt es eine Erklärung, als nach dem Tod der Großeltern zufällig unter einem Sesselkissen eines von Sven Stolpes verschollenen gelben Notizbücher gefunden wird. Sofort blitzte bei mir der Gedanke auf, ob Alex Schulman seinen nächsten Roman über die Kindheit von Sven Stolpe schreiben wird. Den müsste er aber wohl ganz ohne Quellenmaterial nur als Fiktion schreiben.  

Alex Schulman macht mit seinem Roman eine sehr private Familiengeschichte öffentlich. Man könnte sich fragen, warum das für Leserinnen und Leser, die diese Menschen gar nicht kennen, bedeutsam sein soll. Die Geschichte ist bedeutsam, zum einen, weil sie sehr berührende und erschütternde Psychogramme der Personen (es sind keine literarischen Figuren!) entwickelt, zum andern, weil sie uns auffordert, nach unserer eigenen Familienkonstellation zu fragen. Wir verstehen uns selbst offenbar besser, wenn wir unseren Stammbaum auf in ihm verborgene Geschichten befragen können. Einen solchen Stammbaum hat Karin Stolpe für ihren am Ende seines Lebens schwer dementen Mann erstellt, damit er sich noch ein wenig orientieren konnte, wenn ihn eins seiner Enkelkinder oder eines seiner vier Kinder besuchte. Dieser Stammbaum erleichtert Alex die Familienaufstellung in der Therapie.

Der Roman ist unbedingt lesenswert, auch wegen der wunderbaren Sprache, die in der feinfühligen Übersetzung von Hanna Granz hervorragend nachempfunden ist. Besonders in den Passagen, in denen Alexander Schulman seine Romanfiguren (hier sind sie es) auf ihren Wegen begleitet und sich vorstellt, was sie empfunden, was sie gesehen und gehört haben könnten, vermittelt sich seine große Einfühlungskraft in Situationen, in Menschen und in ihr Naturerleben. Die wunderbare Erzählkraft Alex Schulmans lässt uns die schreckliche Geschichte von Karin, Olof und Sven gierig verschlingen und gleich ein zweites Mal lesen.

Meine Empfehlung: Unbedingt lesen. Und wer „Die Überlebenden“ noch nicht kennt, sollte die gleich danach lesen, sich allerdings auch auf harten, aber wunderbar erzählten Tobak einstellen.

Der Roman ist im dtv Verlag in der Übersetzung von Hanna Granz erschienen, er hat 297 Seiten und kostet 23 Euro.

Elke Trost

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