Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

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Der neue Roman „Liebes Arschloch“ der französischen Erfolgsautorin Virginie Despentes erschien 2022 in Frankreich und ist nun in der deutschen Übersetzung im Rowohlt Verlag erschienen. Der provokante Titel überrascht bei diesem Verlag, zumal der französische Titel „Cher Connard“ viel weniger drastisch ist, denn ein „connard“ ist auf Deutsch ein „Blödmann“, kein Arschloch.

Als Leserin fragte ich mich, was mich unter diesem Titel erwarten mochte: eine drastische Sprache? Eine grundsätzliche Abrechnung mit Männern? Also wappnete ich mich vor Beginn der Lektüre, stellte mich auf harten Tobak ein.

Tatsächlich kommt es anders. Dieser Roman greift die Me-Too-Debatte auf, jedoch nicht einseitig aus Frauensicht, vielmehr als E-Mail-Verkehr zwischen dem betroffenen Schriftsteller Oscar Jayack und der alternden, 50-jährigen Schauspielerin Rebecca Latté. So gibt es zu allen Themen immer die männliche und die weibliche Sicht: zu sexueller Belästigung, zur Me-Too-Bewegung, zum Feminismus, zur Homosexualität und dann weiter gefasst zu den unterschiedlichen Rollen von Männern und  Frauen im Kulturbetrieb und zum Funktionieren des Kulturbusiness. Dabei stellt sich heraus, dass durchaus nicht nur die Frauen Opfer dieses erbarmungslosen Business sind, sondern durchaus auch die Männer. Noch im 21. Jahrhundert, dem vermeintlich so aufgeklärten Zeitalter, geht es um althergebrachte Rollenklischees. Der Mann hat ein „echter Kerl“ zu sein, der Whisky säuft und Drogen nimmt, ohne dass man es ihm anmerkt, und der auf „alles politisch Korrekte scheißt“. Wer dem nicht entsprechen kann, hat es schwer, besonders bei den Frauen.  Frauen dagegen werden immer noch über ihr Aussehen bewertet und taxiert, ob sie ein begehrenswertes Sexualobjekt sind. Spätestens ab 50 haben sie es in der Kulturindustrie, speziell im Filmgewerbe schwer, viele werden schlicht ausgemustert.

Wie kommt es nun zu der Mail-Beziehung zwischen  Oscar Jayack und Rebecca Latté?

Rebecca hat eine große Karriere als Schauspielerin hinter sich, bekannt für ihre Schönheit und ihre Rollen in vielen Filmen. Oscar hat sie seit seiner Kindheit verehrt, als sie als Freundin seiner älteren Schwester in seinem Elternhaus verkehrte. Darüber hinaus verbindet sie die Herkunft aus Arbeiterfamilien in Nancy. Als Erwachsener ist er ihr jedoch nicht mehr persönlich begegnet. Dennoch verbreitet er aus reinem Frust über den Shitstorm, der über ihn im Internet entfacht worden ist, auf Instagram eine Schmähschrift über Rebecca, nachdem er sie zufällig in einem Restaurant gesehen hat. Sie sei „auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges Weibsstück. Eine Katastrophe.“ Zufällig spielt ihr ein sogenannter Freund diesen Post zu. Sie antwortet Oscar per Mail, indem sie zum Gegenangriff übergeht. Schon mit der Anrede „liebes Arschloch“ macht sie ihm deutlich, was sie von einem wie ihm hält.

Als Leserin erwartete ich nun eine aggressive Auseinandersetzung zwischen den beiden. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Oscar fühlt sich genötigt, einerseits seinen Post selbst zu verurteilen, andererseits aber bei ihr um Verständnis zu heischen, indem er ihr seine Situation erklärt und auch gleich seine ganze Lebensgeschichte mitliefert.

Er sieht sich einem Angriff auf der Me-Too-Ebene ausgesetzt, den er zunächst für völlig ungerechtfertigt hält. Die Bloggerin Zoë Katana hat auf ihrem Blog nach 10 Jahren heftige Vorwürfe gegen ihn gepostet. Sie war seine Pressesprecherin beim Verlag, nachdem sein erster Erfolgsroman herausgekommen war. Er war damals in sie verliebt und hat ihr intensiv nachgestellt, obwohl sie ihn eindeutig zurückgewiesen hat. Das Ende vom Lied, nachdem sie sich verschiedenen Menschen im Verlag anvertraut  hat: Sie wird gefeuert, während er weiterhin als Erfolgsautor hofiert wird .

Für Oscar kommen die Vorwürfe völlig überraschend, er hat sich bisher nie Gedanken darüber gemacht, was sein Verhalten für die junge Frau bedeutet hat.

Das wird ihm erst klar durch den Mail-Verkehr mit Rebecca. Erstaunlicherweise entwickelt sich diese Mail-Beziehung zunehmend zu einem freundschaftlichen Austausch. Dabei wird das eigentliche große Thema des Kulturbetriebs sichtbar: Alkohol und Drogen. Beide, Oscar wie Rebecca, sind seit Jahren abhängig und gewöhnt, sich ständig zuzudröhnen. Das ist auch mit ein Grund, warum Oscar sich seine Übergriffigkeit gegenüber Zoë in ihrer Tragweite nie klargemacht hat. Rebecca ihrerseits ist seit Teenagerjahren an Drogen gewöhnt, begonnen hat sie mit Heroin, später ist sie auf andere Drogen umgestiegen. Sie bildet sich ein, mit dem Drogenkonsum umgehen zu können.

Oscar wird durch den Austausch, aber auch über den brutalen Rat einer Freundin, einer Altfeministin, klar, dass er nur eine Chance hat, wenn er mit den Drogen aufhört. Er begibt sich in eine Gruppe der „Narcotics Anonymous“, die ihm tatsächlich hilft. Er muss sich eingestehen, dass die Drogen alle seine Beziehungen zerstört haben, die Beziehung zur Mutter seiner Tochter wie auch die Beziehung zur halbwüchsigen Tochter selbst, die ihn als Junkie verachtet.

Rebecca begleitet seinen Weg in den Entzug, auch die Rückfallgefährdungen, mit Ermutigung und viel Empathie, ohne das für sich selbst als einen möglichen Weg zu sehen.

Über weite Strecken entfernt sich der Roman von dem eigentlichen Anlass der Me-Too-Debatte um Oscars Person, vielmehr wird es zunehmend ein Plädoyer gegen Drogenmissbrauch. In ihrer Mailkommunikation sprechen Oscar und Rebecca ohne jede Beschönigung über den Drogenmissbrauch in der gesamten Kulturszene. Virginie Despentes scheint es ein dringendes Anliegen zu sein, darüber nicht zu schweigen, mag es auch die gutbürgerlichen Leserinnen und Leser schockieren. Eigentlich wusste man es zwar  immer schon. In jüngster Zeit hat zum Beispiel Florian Illies in „Liebe in Zeiten des Hasses“ den Drogenmissbrauch in der deutschen Kulturszene  der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts unverblümt dargestellt. Auch der jetzt bei Suhrkamp erschienene  Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch macht keinen Hehl aus deren Alkohol- und Drogenkonsum.

Es ehrt Virginie Despentes, dass sie so vehement für die Abkehr vom Drogenkonsum plädiert. Dafür nimmt sie in Kauf, dass der Roman auch seine Längen hat.

Sie verliert jedoch das Me-Too-Thema nicht aus dem Auge, denn sie lässt Zoë Katana selbst zu Worte kommen. Wir erfahren, welche psychischen Folgen die Übergriffigkeit von Oscar Jayack für sie gehabt hat. Es erscheint durchaus plausibel, dass sie erst nach 10 Jahren darüber schreiben kann. Das liegt auch daran, dass die feministische Bewegung an Fahrt aufgenommen hat, dass Frauen bereit sind, sich zu outen und eigene Lebensformen bewusst zu leben. Das zeigt sich an Oscars Schwester Corinne, die als bekennende Lesbe ein befreites Leben führt.

Insgesamt dominiert die feministische Sicht auf private und berufliche Beziehungen, aber der männlichen Sicht wird durch die Dialogform ebenfalls viel Raum gegeben. Rebecca und Oscar nähern sich an und geben radikale Positionen auf. Oscar kann zunehmend seine männliche Beschönigungsstrategie kritisch sehen und sich auf die Frauenperspektive einlassen. Rebecca ihrerseits begibt schließlich auch zu den Narcotics Anonymous.

Die Posts von Zoë Katana geben ein ambivalentes Bild dieser jungen Frau. Virginie Despentes stellt sie einerseits als Kämpferin gegen Männermacht dar, gleichzeitig aber auch als labile Persönlichkeit, die sich in einer radikal-feministischen Szene orientiert, unerbittlich in ihrem Hass, der jede Versöhnung ausschließt. So gelingt es Virginie Despentes, dass sich die Leserin einerseits mit Zoë solidarisieren möchte, anderseits aber auch die Frage stellen muss, ob sich hier – nach 10 Jahren – Opfer- und Täterrollen vermischen oder auch umkehren.

Virginie Despentes gelingt es mit der dialogischen Struktur ihres Romans, uns als Leserinnen und Leser herauszufordern, selbst Stellung zu beziehen.

Die klare Gleichung: Männer gleich Täter, Frauen gleich Opfer lässt sie nicht gelten. So wichtig Aufklärung und Kampf für die Rechte der Frauen sind, so sehr kann auch dieser Kampf umschlagen in neue Machtstrukturen. Radikalisierung wird demnach nicht dazu führen, dass Männer und Frauen, Heteros und Homos, Junge und Alte auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, sondern Hass auf beiden Seiten schüren. So zieht auch Zoë ihrerseits einen Instagram-Shitstorm auf sich.

Als Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Me-Too-Debatte und dem modernen Feminismus ist Despentes Roman ein wichtiges Buch, das zwar nicht von höchster literarischer Qualität ist, aber uns doch alle angeht.

Das Buch ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, aus dem Französischen übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Es hat 336 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost         

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