Tanzabend mit Längen

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Nach dem Ende des klassischen Balletts mit ausgreifend erzählten Geschichten hat es sich eingebürgert, Abendprogramme mit zwei unabhängigen Produktionen auszustatten, gerne auch von verschiedenen Choreographen. Im besten Falle hat man dabei den Vorteil, ein breiteres Spektrum tänzerischer Varianten abzudecken, was sich mit einer vorgegebenen, in sich geschlossenen Geschichte eher schlechter realisieren lässt. In anderen Fällen kann dann eine gelungene Choreographie die andere, fragwürdige, noch mittragen.

Die letztere Situation ist offensichtlich in dem Programm „Force Majeure/Boléro“ des Hessischen Staatsballetts gegeben, dessen ersten Teil, „Force Majeure“, das kanadische Duo David Raymond und Tiffany Tregarthen entwickelt hat, während „Boléro“ von dem Israeli Eyal Dadon stammt.

„Force Majeure“, zu Deutsch „Höhere Gewalt“, weckt von den ersten Augenblicken sowohl musikalische als auch choreographische Assoziationen an Strawinskys „Sacre du Printemps“. Ostinate und eher dunkle Rhythmen begleiten ein einzelnes Licht, das wie die Ankündigung einer göttlichen Instanz aus der Höhe der Bühnendecke den schwarzen Bühnenboden abtastet. Dann fliegen aus einer Öffnung im Boden menschliche Kleidungsstücke auf die Bühne, und an der Bühnenrückwand richtet sich langsam eine hohe schwarze Wand auf, die wiederum an die schwarze Stele aus Stanley Kubricks „Odyssee 2001“ erinnert. Fast zögernd bevölkert das Ensemble die Bühne, kleidet sich zum Teil aus dem hingeworfenen Kleiderhaufen ein und schiebt dann einen Tisch gleich einer Monstranz vor die schwarzschiefrige Metallwand. Das ganze mutet wie die Vorbereitung einer Opferung an. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn einzelne Tänzer von anderen auf den Tisch gehoben und wie bei der Grablegung Christi dort abgelegt werden.

Ensemble in „Force Majeure“

Wer jedoch eine Geschichte wie „Sacre“ erwartet, sieht sich getäuscht. Die Analogie hat man wohl bewusst gesucht, aber man hat sich auch vor jeder allzu deutlichen Ähnlichkeit gehütet. Es bleibt bei der tänzerischen Umsetzung der Beziehung zu dieser höheren Gewalt. Auch hier stellt sich schnell die Frage nach individueller Auseinandersetzung oder Zuflucht in der Gemeinschaft. Dabei genießt die Gruppe, wohl schon aus choreographischen Gründen, den Vorzug. Von Zeit zu Zeit stellt sich ein Tänzer oder eine Tänzern allein der höheren Gewalt, wird jedoch bald wieder von der – rettenden? – Gruppe aufgenommen. Wenn das Ensemble als Gruppe auftritt, beschwört es geradezu im Tanz die gefürchtete Macht. Da aber diese Macht in einem anorganischen, reglosen Wesen besteht, ergibt sich kein tänzerischer Dialog. Das hat dann in der ersten Hälfte dieser Choreographie einige Längen zur Folge, wenn sich das Ensemble tänzerisch zu einer der „minimal music“ eines Phillip Glass ähnelnden Musik ohne dynamische Höhepunkte bewegt. Erst im zweiten Teil wird es lebendiger, wenn einerseits die Musik variiert und auch die Choreographie abwechslungsreicher agiert. Gerade die Wechsel von Einzel- und Gruppentanz bringen Leben und Spannung auf die Bühne. Der Schluss kommt dann – ein gezielter choreographischer Einfall – plötzlich ohne musikalische Vorbereitung während einer Einzeldarbietung und lässt damit alle menschlichen Fragen nach dem Wesen der „Force Majeur“ offen.

Die zweite Choreographie, „Boléro“, basiert auf dem gleichnamigen Orchesterstück von Maurice Ravel, einem der berühmtesten Stücke der Musikgeschichte. Und hier beginnt schon das Problem. Das Musikstück dauert in seiner Originalversion etwa siebzehn Minuten, zu kurz für eine Choreographie in abendfüllendem Format, das hier etwa vierzig Minuten verlangt. Man hätte das Stück natürlich verlängern können, etwa durch Wiederholung von Takten oder ganzer Passagen. Obwohl das lizenzrechtlich kein Problem gewesen wäre, war es aber keine Option, weil es das – in sich perfekte – Stück vergewaltigt hätte. Also entschied sich der Choreograph für eine Verdoppelung, eine im Grunde genommen schon fragwürdige dramaturgische Maßnahme. Da musste die Variation also durch das Tänzerische erfolgen. Beim ersten Durchlauf erscheint ein Einzeltänzer auf der Bühne und interpretiert Ravels Stück auf seine individuelle Weise. Dabei tritt jedoch das Problem auf, dass die Musik die gleiche Melodie immerfort wiederholt, nur mit verschiedenen Instrumentierungen. Die musikalische Spannung ergibt sich aus der zunehmenden instrumentalen Dichte und der wachsenden Intensität der Intonation. Dieser langsame Spannungsaufbau kommt jedoch im Einzeltanz nicht in ausreichendem Maße zum Ausdruck. Zu verhalten, ja fast nachdenklich bewegt sich der Solist Tatsuki Takada auf der Bühne, ohne dass sich die stetig zunehmende Spannung der Musik auf seinen Tanz überträgt.

Ensemble in „Boléro“

Im zweiten Durchlauf, der nach einer kurzen und daher ebenfalls problematischen Pause beginnt, erscheint das Ensemble auf der Bühne und interpretiert Ravels Musik nun in der Gruppe. Man hätte das so lösen können, dass man die jeweils spielenden Instrumente auf der Bühne tänzerisch nachbildet bis zum abschließenden, orgiastischen „Tutti“, mit allen choreographischen Fragezeichen eines „Nachtanzens“ der Musik. Das wollte Eyal Dadon offensichtlich nicht, und so lässt er das Ensemble die Musik durch individuellen tänzerischen Ausdruck in der Gruppe begleiten, ohne der Musik unmittelbar zu folgen. Die Gruppe bringt zwar mehr Leben und Abwechslung auf die Bühne, sieht sich jedoch ebenfalls mit dem Problem der „nur“ langsam und stetig steigenden Spannung konfrontiert. Dieser retardierte, geradezu geduldig auf einen Höhepunkt zusteuernde Prozess kommt jedoch in den tänzerischen Bewegungen nicht zum Ausdruck; das Ensemble tanzt zwar variantenreich und technisch tadellos, aber die eigene Spannung dieser Musik schlägt sich letztlich nicht in der Choreographie nieder.

Das Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Ines Kaun spielte aufmerksam und – vor allem in „Force Majeure“ – variantenreich. Bei Ravels „Boléro“ versuchte Kaun, die beiden Durchgänge durch unterschiedliche Interpretationselemente zu differenzieren. Das klang dann im ersten Durchlauf mal etwas jazzig, fast bluesartig, im zweiten dagegen etwas drängender. Aber solche Interpretationsvarianten reiben sich einerseits mit dem Begriff der Werktreue und müssen andererseits aus dem choreographischen Kontext heraus nachvollziehbar sein. Und da dieser keine scharfen Kontraste forderte, blieben auch die musikalischen Ausflüge in andere Interpretationsräume aus.

Dennoch bot dieser Abend viele Ansätze zeitgenössischen Tanztheaters, und das Publikum bedankte sich mit kräftigem Beifall.

Frank Raudszus

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