Nils Minkmar: „Montaignes Katze“

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In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging es in Frankreich recht turbulent zu. Luthers Reformation hatte auch hier viele Anhänger gewonnen, und ein längerer Religionskrieg im Inneren war die Folge. Als der dynastische Nachfolger von König Heinrich III. im Sterben lang, setzte ein Kampf um die Thronfolge ein, der sich über mehrere Jahre hinzog. Heinrich von Navarra war Protestant, Heinrich von Guise dagegen überzeugter Katholik. Michel de Montaigne, selbst toleranter Katholik, bekleidete damals das Amt des Bürgermeisters von Bordeaux und hatte sich ansonsten auf sein Schloss im Südwesten Frankreichs zurückgezogen, um dort an seinen „Essays“ zu arbeiten. Die waren in ganz Frankreich berühmt, und ihr Autor genoss ein hohes Ansehen, nicht zuletzt wegen seines ausgleichenden Wesens.

Nils Minkmaars Roman setzt im Jahr 1584 ein, als der bereits kränkliche Montaigne Besuch eines geheimen Boten aus Paris erhält, der ihn bittet, sobald wie möglich an den Hof in Paris zu kommen. Montaigne weiß sofort, worum es geht, wartet ganz Frankreich doch nur auf den Tod des schwerkranken Thronfolgers, und die oben genannten Konkurrenten scharren bereits mit den Füßen. Doch Minkmaar ist konsequent Romancier und versteht sich hier nicht als Sachbuch-Autor. Er schreibt zwar in der dritten Person, aber dennoch weitgehend aus Montaignes Perspektive. Daher verzichtet er auch auf eine Einführung in die Situation, die angesichts dreier königlicher Heinriche für die Leser sehr unübersichtlich ist. Da die handelnden Personen den Kontext samt biographischer und politischer Details dieser Heinriche kennen, reichen ihnen Bemerkungen und Anspielungen in den Dialogen vollständig. Der Leser jedoch muss sich erst durch das politische Personaltableau durchkämpfen. Doch das ist literarisch durchaus legitim und nachvollziehbar, denn Minkmaar beschreibt ja das Leben und Handeln der Protagonisten aus ihrer Zeit heraus und nicht als Lehrstück für ein heutiges Publikum.

Ein besonderer Kunstgriff besteht darin, den Roman im Präsens zu verfassen. Üblicherweise werden historische Romane im Präteritum geschrieben, weil einerseits die Handlung vollständig abgeschlossen weit in der Vergangenheit liegt, und weil andererseits ein „allwissender“ Erzähler später über Motive und Hintergründe sinnieren oder informieren kann. Nicht so Minkmaar: er will nicht diesen allwissenden Erzähler spielen, und er möchte die Unsicherheit der Entwicklung des Geschehens sichtbar machen. Das geht nur mit der Gegenwartsform, die ständig suggeriert, dass alles möglich und nichts entschieden ist. Die Leser erleben die Handlungen sozusagen „in Echtzeit“ mit.

Die Handlung besteht aus zwei zentralen Ereignissen. Kurz nach dem Erscheinen des geheimen Boten reist Montaigne mit seiner Frau nach Paris, da er um die kritische Situation weiß. Letzten Endes geht es um die Nachfolge des todkranken Thronfolgers, und man glaubt bei Hofe, er könne dabei eine mäßigende und beratende Rolle spielen. Doch er erlebt in Paris den Hof mit all seinen Intrigen, aber auch mit seinen verantwortungslosen Spielen und dem höfischen Protokoll, die den Ernst der Situation in keiner Weise widerspiegeln. Minkmaar zeigt an zwei Beispielen den Schrecken dieser Zeit. An einem Tag treffen sie auf einen leutseligen, fast fröhlichen Mann, der sich als Vorsteher der Pariser Richtstätte erweist und dem Ehepaar Montaigne auf unterhaltsame Art die gut durchorganisierte Hinrichtung Hunderter von Delinquenten erklärt, die im schlimmsten Fall nur die falsche Religion ausgeübt haben. Der einfache Mensch zählt hier nicht, und das ist anscheinend auch gut so. Der zweite Fall betrifft die Waisenhäuser, in denen viele Kinder verhungern, während die vom Stadt dafür vorgesehenen Gelder in den privaten Taschen der Verantwortlichen landen. Die Stärke dieser Schilderungen liegt darin, dass sie allein durch ihre sachlichen Beschreibungen wirken und auf jegliche moralische Empörung des nachgeborenen Autors verzichten. Es reicht vollständig, wenn sich das Ehepaar Montaigne schockiert zeigt.

Der Besuch in Paris ist für Montaigne eine Sichtung der Verhältnisse, ohne dass er hier wirklich Einfluss ausüben kann. Diese Gelegenheit ergibt sich erst, als sein Lieblingskandidat, der reformierte Heinrich von Navarra, im Winter Montaigne auf dessen Schloss besucht. Heutigen Lesern erscheint der Aufwand, mit dem Heinrich dort auftritt, unfassbar. Hunderte von Begleitern aller Art – Adlige, Soldaten, Bedienstete, Köche, etc. – begleiten ihn in einer endlosen Schlange von Wagen und Pferden, die alle im Dorf und auf dem Schloss untergebracht und versorgt werden wollen. Auf der damals obligatorische Jagd findet Montaigne dann die Gelegenheit zum Gespräch unter vier Augen mit Heinrich von Navarra, und in diesem Gespräch verdichtet sich die Aussage des gesamten Romans. Michel Montaigne alias Nils Minkmaar hält in diesem fiktiven Gespräch ein engagiertes Plädoyer für eine tolerante, inklusive Regierungsform als einzige Möglichkeit der Befriedung eines gespaltenen Volkes. Die meisten seiner Worte würden auch heute noch aufs Wort passen, wenn man sich etwa die USA oder andere Länder anschaut. Natürlich schimmert auch der gegenwärtige Konflikt in der Ukraine durch, aber Minkmaar hütet sich, vorschnelle Analogien auch nur anzudeuten. Die Leser können diese Assoziationen selbst vornehmen.

Minkmaar lässt in diesem Buch die Geschichte noch einmal lebendig werden und verleiht den historischen Gestalten – nicht zuletzt durch das gewählte Präsens – ein überzeugendes menschliches Profil und unmittelbare Präsenz.

Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 399 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus

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