Oliver Wunderlich: „Wir, die Anderen“

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Diese Sammlung von zweiundzwanzig biographischen Kurzgeschichten in Ich-Form beginnt mit der schrägen Schilderung eines Wettbewerbs im Currywurst-Essens, den eine Imbiss-Stube aus Angst vor dem neu eröffneten McDonalds veranstaltet. Der volksnahe, fast schenkelklopfende Witz bedient schlichte Erwartungshaltungen und erweckt gleichzeitig Skepsis ob der weiteren Geschichten.

Aber das erweist sich schnell als Vorurteil des rezensierenden Lesers. Bereits die zweite Geschichte führt in eine Kindheit in Frankreich, die mit menschlichem Leid und kindlichen Gewissensnöten gespickt ist. Dabei kommt der Autor ohne jegliche Sentimentalität oder tönerne Moral aus. Weiter geht es mit einem Erzähler, der irgendwann in den Sechzigern in einer Wiener Tanzschule aufwächst, die sein Großvater nach konservativen bürgerlichen Maßstäben leitet. Nach seiner verständlichen Flucht zum Maschinenbau und zur Atomkraft kehrt er reumütig an den Platz seiner Kindheit zurück, weil ihm der Großvater einen strukturellen Halt verliehen und auch einen gewissen Familienwert geschaffen hat. Wunderlich verzichtet auch hier auf Erklärungen seiner „Moral“ und überlässt die Deutung seiner Geschichte den Lesern.

Die meisten Geschichten führen von einer Kindheit um die späte Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit und lassen den Erzähler Rückschau halten. Darunter sind vereinzelt auch weibliche Protagonisten, doch überwiegend beschränkt sich der Autor dabei auf sein Geschlecht. Die Generation der „68er“ kommt dabei auch nicht besonders gut weg, etwa, wenn eine Mann seinen übriggebliebenen 69-Hippie-Vater in dessen heruntergekommener Unterkunft auf dem platten Land besucht, wo der Vater sein vollständiges privates und berufliches Scheitern in die Erzählung des verkannten, aber spätberufenen Rockmusikers umdeutet. In einer anderen Geschichte bringt eine Hippie-Frau irgendwann in den Siebzigern einen Sohn zur Welt, deponiert diesen bei ihren Eltern und verschwindet auf Nimmerwiedersehn im indischen Poona. Der Junge bleibt sein Leben Lang traumatisiert und beziehungsunfähig, versackt auf dem platten Land mit einer esoterischen Frau, zwei Töchtern und Übergewicht vor Fernseh-Talkshows und erkennt den Wert der Familie erst nach einer Krebs-Therapie und einem fast tödlich verlaufenen Herzinfarkt.

Das sind einige willkürlich ausgewählte Beispiele, die jedoch zeigen, wie der Autor sowohl verschiedene Länder Europas als auch verschiedene Generationen und verschiedene Zeitabschnitte der letzten sechzig Jahre zu Wort kommen lässt. Das tut er mit viel nicht nur ironischem Humor, gemäßigter Satire und viel Verständnis für menschliche Schwächen aller Art.

Das Buch ist im Verlag „anders & wunderlich“ erschienen, umfasst 268 Seiten und kostet 14,90 Euro.

Frank Raudszus

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