Sasha Filipenko: „Kremulator“

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Pjotr Iljitsch Nesterenko wird am 23. Juli 1941 in Moskau verhaftet und nach Saratow überstellt. Deutschland hatte am Tag zuvor der Sowjetunion den Krieg erklärt. Zeitgleich verhaften die wachsamen sowjetischen Behörden in der Hauptstadt etwa tausend weitere Personen als angebliche Spione.

Nesterenko muss verschiedene Verhöre über sich ergehen lassen, in denen immer wieder behauptet wird, er sei ein Spion und solle jetzt mit der Wahrheit darüber herausrücken, für welchen Geheimdienst er arbeite. Doch Nesterenko belastet sich nicht selbst, was Leutnant Perepiliza von der Staatssicherheit verärgert, denn das neue Quasi-Rechtswesen verlangt von ihm, Nesterenko zu einem Geständnis zu bringen, um ihn zum Tode verurteilen zu können.

Als Leser werden wir Zeugen der Verhöre, die Nesterenko über sich ergehen lassen muss. Sasha Filipenko gibt dabei jedes Verhör akribisch im Wortlaut wieder. Wie bei einem Katz- und Mausspiel kreisen Beschuldigter und Ermittler umeinander, immer darauf bedacht, keinen Fehler zu begehen. Man könnte es auch mit einem Schachspiel vergleichen, bei dem die Kontrahenten jeden Zug genau bedenken, um den Gegner in die Enge zu treiben. Nur geht es hier leider nicht um ein Spiel, sondern um das nackte Überleben, jedenfalls für Nesterenko. Aber auch Perepeliza muss einen Erfolg vorweisen, sonst könnte er das nächste Opfer sein.

Im Verlauf der Verhöre blättert Nesterenko sein Leben, seine beruflichen Tätigkeiten und seine große Liebe zu Vera auf. Er berichtet auch über die Jahre seines Exils in Paris,, London und Serbien, und obwohl er genau gewusst hatte, dass ihn in Russland kein ruhiges Leben erwarten würde, war er nach Moskau zurückgekehrt. Er hatte ganz einfach Heimweh und wollte seine russische Sprache sprechen, auch wenn er dafür als Kremulator arbeiten musste. Bei dieser Tätigkeit musste er von morgens bis abends , und auch nachts, tausende Opfer des Systems einäschern. Die große Tragödie seines Lebens ist die Tatsache, dass er bei seiner Tätigkeit zu viel gesehen und zu viele Opfer erkannt hat. Totalitäre Systeme wollen keine Zeugen für ihre schmutzigen Geschäfte.

Als Leser läuft es einem eiskalt den Rücken herunter, wenn man die Hilf- und Machtlosigkeit des russischen Bürgers Nesterenko hautnah miterleben muss. Man denkt dabei unwillkürlich an Nawalny.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 252 Seiten und kostet 25 Euro.

Barbara Raudszus

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