Ian McEwan: „Lektionen“

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Roland Baines ist der Protagonist des neuen Romans „Lektionen“ des britischen Autors Ian McEwan. Roland Baines ist wie der Autor im Jahr 1948 geboren, wir Leser begleiten ihn auf seinem Lebensweg bis 2021. McEwan verknüpft Rolands individuelle Lebensgeschichte mit den großen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in diesen 72 Jahren. Als Gegenmodell einer Lebensgeschichte entwickelt McEwan die Geschichte von Rolands Frau Alissa. Er zeigt, wie persönliche Erlebnisse und der Einfluss der äußeren Ereignisse ein Leben prägen. Am Schluss stellt sich die Frage, welche „Lektionen“ wir im Leben lernen, wie weit wir selbst verantwortlich sind für den Verlauf unseres Lebens und was eigentlich als gelingendes Leben zu definieren ist.

Zu Beginn des Romans begegnen wir dem 38-jährigen Roland im Jahr 1986 in einer existenziellen Lebenskrise. Seine Frau Alissa hat ihn ohne Vorankündigung verlassen und ihn mit dem 7 Monate alten Baby Lawrence allein gelassen. Nur eine kurze Notiz von ihr lässt Roland wissen, dass sie aus innerem Drang nach Freiheit gehen zu müssen glaubte, es habe nichts mit ihm zu tun.

Roland befindet sich als mehr oder weniger verkrachte Existenz in einer prekären Situation. Ein wenig journalistische Tätigkeit und lyrische Versuche als Dichter bringen kaum Geld, er ist auf staatliche Unterstützung angewiesen, um überhaupt den Alltag mit dem Baby zu bewältigen.

Im ersten der drei Teile des Romans führt uns McEwan zurück in die Kindheit und frühe Jugend von Roland wie auch von Alissa. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Eltern, die mit ihren jeweiligen Lebenssituationen und Einstellungen die Entwicklung der Kinder wesentlich prägen.

Roland kommt aus einer bildungsfernen Familie, sein Vater ist Soldat, der nach 1945 zum Major befördert wird und in Libyen stationiert ist. Die Mutter ist eine scheue, weiche Frau ohne eigenes Profil. Was dahinter steckt, wird erst gegen Ende des Romans im dritten Teil aufgedeckt. Roland kann als englischer Junge in Libyen keine Wurzeln schlagen, er bleibt fremd in dieser Welt. Die Entwurzelung wird vertieft, als er mit 11 Jahren nach England ins Internat geschickt wird, was eine abrupte Trennung von den Eltern bedeutet, die nach Libyen zurückkehren.

Im Internat wird Roland das Missbrauchsopfer seiner übergriffigen Klavierlehrerin, die ihn im Alter von 14 Jahren sexuell abhängig macht.

Spiegelbildlich zu Roland entwickelt McEwan die Prägung seiner Frau Alissa durch die Eltern. Sie ist das Kind des deutschen Juristen Heinrich und der jungen Engländerin Jane, die 1945 mit großen journalistischen Plänen nach Deutschland geht, um die Geschichte der Geschwister Scholl zu recherchieren und als erste für eine britische Zeitung zu berichten. Ihr umfangreiches Material bleibt in der Schublade, nachdem sie Heinrich geheiratet hat und Mutter geworden ist. Aus dem Künstlerort Murnau, der beide fasziniert hat, ziehen sie schließlich in die norddeutsche Provinz. Janes Verbitterung über ihren geplatzten Lebenstraum wird Kindheit und Jugend der Tochter Alissa prägen. Sie wird sich nicht von Mann und Kind fesseln lassen.

Der zweite Teil des Romans ist sowohl Rückblick auf die Jahre vor 1986 als auch der Fortgang von Rolands Leben bis 1997. Roland erinnert sich an sein unstetes Leben, bevor Alissa in sein Leben tritt. Er hat als 16-jähriger fluchtartig Schule und Internat verlassen, um sich aus der Umklammerung der Klavierlehrerin zu befreien. Was folgt, ist ein Leben ohne Qualifikationen: Statt eines Konzertpianisten wird aus ihm ein Salon-Klavierspieler in einem Hotel; statt eines Tennisstars wird er Tennislehrer; statt einer Dichterkarriere schreibt er Werbetexte für eine Fluglinie, alles ganz ordentlich, aber nichts richtig. Ohne feste Wurzeln kann er auch zu Frauen keine dauerhaften, stabilen Beziehungen aufbauen. Er nennt sich selbst periodisch monogam.

Erst mit Alissa gelingt es ihm, eine Familie zu gründen, ein Häuschen zu kaufen und eine einigermaßen bürgerliche Existenz aufzubauen. Alissas Flucht aus dieser Häuslichkeit stellt alles in Frage, das Kind jedoch erfordert ein Mindestmaß an Ordnung und Ritualisierung des Alltags. Es gelingt ihm sogar im Unternehmen eines Freundes eine Zeitlang mit Sprüchen für Grußkarten gutes Geld zu verdienen, allerdings ist er auch hier nicht der authentische Poet, vielmehr beutet er die Weltliteratur für seine Sprüche aus. 

Das prägendste politische Ereignis in dieser Zeit ist für Roland der Mauerfall in Berlin, den er unmittelbar miterlebt. Er begibt sich in den Menschen-Strudel von West nach Ost und Ost nach West, der ihn zugleich überwältigt und auch erschreckt angesichts der großen Erwartungen der Menschen auf beiden Seiten. Und er denkt an die Ost-Berliner Freunde, die wegen kritischer Worte in die Provinz verbannt worden waren: Welche neuen Möglichkeiten mögen sich eröffnen!

Mit dieser politischen Ausnahmesituation verknüpft sich seine persönliche Geschichte. In dem größten Wirrwarr begegnet er Alissa wieder, die inzwischen ihren ersten Roman über das Leben ihrer Mutter geschrieben hat, der ein großer Erfolg werden wird. Es deutet sich an, dass diese getrennten Lebenswege unterschiedlicher nicht sein könnten: sie, die große Erfolgsautorin; er, der vor sich hin dümpelnde Durchschnittsmensch, der keines seiner Talente zur Meisterschaft gebracht hat.

Mehr Stabilität kommt in sein Leben durch die Freundin Daphne, die ihm die Bedeutung des großen Familientisches als Ort der häuslichen Ordnung und Begegnung vermittelt. Leider versäumt es Roland, aus den zwei Haushalten einen gemeinsamen zu machen, so dass sie ihn schließlich verlässt.

Es ist das  Jahr 1997, Roland ist mittlerweile 49 und offenbar immer noch nicht richtig im Leben angekommen. Bisweilen treibt ihn die Frage um, wie die zufälligen Wendungen des Schicksals sein Leben bestimmt haben. Er erkennt aber, dass das „Was-wäre-gewesen-wenn“ in die Sackgasse führt. Wir selbst treffen die wegweisenden Entscheidungen in unserem Leben, nicht die anderen. Wie aber ist es mit den Eltern und den Erwachsenen der Kindheit und frühen Jugend: Sind sie nicht doch verantwortlich? Wie hätte er sich entwickeln können, wenn er eben dieser Klavierlehrerin nicht begegnet wäre?

Der dritte Teil setzt ein im Jahr 2002. Rolands mittlerweile 16-jähriger Sohn Lawrence kehrt von seiner ersten selbstständigen Reise auf den Kontinent zurück. Roland erwartet ihn mit großen Hoffnungen zurück. Lawrence steht an der Schwelle zur Sixth Form der Grammar School (das entspricht unserer Sekundarstufe II), die mit der allgemeinen Hochschulreife abschließt. Er verspricht ein exzellenter Mathematiker zu werden. Lawrence jedoch beschließt wie seinerzeit sein Vater, die Schule abzubrechen und seine Freiheit zu genießen.

Roland muss seine Erwartungen wieder einmal zurückschrauben, ohne jedoch den Sohn zu gängeln.

Jetzt, im Alter von 55 Jahren, beginnt er, sein Leben zu reflektieren, auch mit Hilfe eines Tagebuchs.

Die grundsätzlichen Fragen werden wichtig, die es noch zu klären gibt. Dazu gehört eine Wiederbegegnung mit der ehemaligen Klavierlehrerin, nur so kann Roland für sich klären, ob er nur Opfer oder auch Täter war.

Dazu gehört die Auseinandersetzung mit klassischer Literatur und mit der Frage, was Literatur darf. Darf sie tatsächliche lebende Personen aus dem Umfeld des Autors, der Autorin bloßstellen? Was ist entscheidend für die Bewertung von Literatur: die künstlerische Qualität eines Werks oder das Verhalten der realen Autorin bzw. Autors? Das macht sich fest an dem jüngsten Roman von Alissa, die inzwischen zur bedeutendsten Schriftstellerin Deutschlands geworden ist.

Seine eigene Entwurzelung wird Robert noch einmal ganz klar, als er mit 58 seinen sechs Jahre älteren Bruder Robert kennen lernt, der gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde. Robert ist in einer stabilen Adoptivfamilie groß geworden, die ihm Liebe und Geborgenheit geboten hat. Entsprechend bodenständig ist Robert, im Gegensatz zu dem immer von Selbstzweifeln geplagten Intellektuellen Roland.

In den  Jahren von 2010 bis 2021 wird Rolands Leben gesetzter. Daphne kehrt zu ihm zurück, jetzt kann er sich aktiv für sie entscheiden, sie heiraten.

Die letzten Jahre sind bestimmt von Rückblicken, von Erfahrung von Krankheit und Tod, von der Pandemie. Der Lockdown ist für Roland ein Anlass sein Leben zu ordnen, Fotos zu sortieren und für die Nachkommen zu beschriften, aber auch auszusortieren, was nicht mehr gebraucht wird. Die jungen Leute treiben der Klimawandel und die Umweltkrise um. Dennoch erfährt Roland jetzt Stabilität und Aufgehoben-Sein in der Familie seines Sohnes und in den Familien von Daphnes Kindern.

Eine letzte Begegnung mit Alissa führt zu der großen Frage, was gelungenes Leben ist. Ist es der große Erfolg nach außen, auch wenn der mit dem Verzicht auf Familie und Liebe erkauft ist? Oder ist es die Vielseitigkeit von Erlebnissen, Erfahrungen, Aktivitäten ohne Meisterschaft? Ist es die Zukunftshoffnung im Alter, wenn die kleine Enkelin Opas Hand nimmt?    

McEwan wertet nicht, er lässt seine Figuren selbst sprechen.

In diesem überaus komplexen Roman thematisiert McEwan am Beispiel des Lebens von Roland Baines eine Fülle von grundsätzlichen Fragen, die sich in einem langen Leben stellen.

Wo sind wir schuldig geworden? Wo sind andere, insbesondere unsere Eltern an uns schuldig geworden? Wie ist damit umzugehen?

Welche Bedeutung haben Ordnung und Verantwortung gegenüber Freiheit, Chaos und Selbstverwirklichung im Leben?

Wie gehen wir mit den traditionellen Rollenbildern um? Zahlen Frauen einen höheren Preis als Männer für eine unkonventionelle Lebensführung?

Gibt es einen Königsweg zu einem gelungenen Leben?

Im Zentrum der politischen Themen steht der Ost – West-Konflikt, wie er sich jetzt nach Jahren der Entspannung wieder zuspitzt. Die Opposition von Freiheit und Unfreiheit, von Demokratie oder Autokratie, von Ordnung oder Chaos hebt die Fragen der persönlichen Lebensführung auf eine übergreifende Ebene.

Auch hier wertet McEwan nicht, er belehrt nicht, er missioniert nicht, sondern er stellt die unterschiedlichen Positionen dar. Welche Antwort wir für uns finden, ist unsere Aufgabe als Leserinnen und Leser.

McEwans Romanfigur Roland findet für sich eine Antwort, und die heißt Verstehen und Versöhnung mit all den Menschen, die ihn in seinem Leben verletzt haben, denn auch sie sind ihrerseits Verletzte und so in ihrem Verhalten nicht frei. Er nimmt sein Leben so an, wie er es gelebt hat. Das ist seine Lebenslektion, die ihm im Alter bewusst wird.

Diesen klugen, auch sprachlich hinreißenden Roman sollte sich niemand entgehen lassen!

Das Buch ist in der Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben im Diogenes-Verlag erschienen, es hat 720 Seiten und kostet 32 Euro.

Elke Trost

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