Ein Opfer mit Genierang

Print Friendly, PDF & Email

Der Begriff des Opfers ist normalerweise negativ konnotiert in dem Sinn, dass ein Opfer seine Rechte verliert, ausgegrenzt oder diskriminiert wird und im schlimmsten Fall durch die Schuld der Täter stirbt. Wenn diese Bezeichnung einem Kunstwerk verliehen wird, dann sehen die Dinge jedoch etwas anders aus, besonders, wenn der Künstler sein Werk selbst so bezeichnet. Das trifft im besonderen Maße für die Komposition „Ein musikalisches Opfer“ von Johann Sebastian Bach zu. Im Jahr 1747, drei Jahre vor seinem Tod, erhielt der Leipziger Thomaskantor von dem noch jungen Preußenkönig Friedrich II, später „Friedrich der Große“ benannt, eine Einladung nach Potsdam. Dass man die Einladung eines Königs auch als berühmter Musiker nicht ausschlägt, lag zumindest damals auf der Hand, und so schaukelte Bach mit seinem Sohn Friedemann in einer über zweitägigen Parforce-Tour mit der Kutsche über miserable Wege und fast ohne Schlaf zum Sitz des Königs.

Die sechsstimmige Fuge „Ricercar 6“

Was dort geschah, wurde in dem Konzert mit dem Namen eben dieses Kunstwerks als Titel sowohl musikalisch als auch szenisch dargestellt. Dafür wurden renommierte Musiker beiderlei Geschlechts engagiert. Joachim Enders ist nicht nur Kantor der Bessunger Gemeinde, sondern auch ein hervorragender Pianist bzw. Cembalist und und als solcher auch beim Staatstheater Darmstadt tätig. Der Violonist Ingo de Haas hat früher einmal im Orchester des Staatstheaters gespielt und seine Musikerkarriere anschließend in anderen Orchestern fortgesetzt. Leevke Hinrichs an der Flöte, Monika Nussbächer an der zweiten Violine und Julie Borsodi am Violoncelli vervollständigten die Runde zu einem kleinen Orchester.

Der ehemals am Staatstheater agierende Schauspieler Aart Veder trat als musikalischer Conferencier auf und trug zwischen den Musikstücken aus einer Chronik die Ereignisse um die Entstehung des „musikalischen Opfers“ vor.

Demnach spielte Friedrich II. dem übernächtigten Bach nach dessen Eintreffen vor großem Publikum ein eigenes und kompliziertes Thema vor, das dieser bitte in eine freistimmige Fuge umsetzen solle. Wenn ein König danach fragt, ist das keine „Bitte“, sondern quasi ein Befehl; also setzte sich Bach ans Cembalo und improvisierte eine dreistimmige Fuge, die Joachim Endes – ebenfalls am Cembalo – souverän intonierte. Dabei hatte er das seltenen Glück, mit Ingo de Haas einen hochkarätigen Musiker als „Umblätterer“ neben sich zu haben.

Nach weiteren einstimmende Texten von Aart Veder folgten in der „Rezitation 2“ fünf „Canons“ über das vorgegebene Thema für unterschiedliche Instrumente, mal nur die Violinen, dann mit Violoncello oder auch mit Flöte und zum Schluss nur Violine und Cembalo. Bach hatte diese Preziosen nach seiner Rückkehr in Leipzig verfasst, um die Wünsche des „hochwohllöblichen Herrschers“ aufs beste zu befriedigen. Der hatte ihn in Potsdam dadurch schwer gedemütigt, dass er nach der dreistimmigen Fugen-Improvisation noch eine sechsstimmige Fuge verlangte, die selbst ein Bach nicht aus der Hand schütteln konnte. Den vorgetragenen Texten zufolge wusste das der musikalische kompetente König durchaus und ließ Bach damit „coram publico“ aus dessen Sicht als Versager dastehen. Demnach war auch das Thema nicht zufällig gewählt, sondern bewusst so ausgedehnt und komplex – chromatische Tonfolgen! – gewählt, dass sich daraus nur sehr schwer eine Fuge mit sechs Stimmen erarbeiten ließ.

Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Musiker und Herrscher erklärt sich auch der Titel „Ein musikalisches Opfer“. Für Bach müssen die Tage in Potsdam und – mit Einschränkungen – die harte Arbeit der folgenden Wochen und Monate wie ein Opfergang gewesen sein, und an dieses Leid wollte er den arroganten Autokraten zumindest erinnern.

Die tatsächliche Umsetzung der Kompositionsaufgabe musste nicht nur im Jahr 1747 längere Zeit, sondern auch an diesem Konzertabend noch bis zum Schluss auf sich warten lassen. Vorher ertönten in der „Rezitation 3“ noch einmal fünf weitere Fugen und „Canons“ in unterschiedlichen Zusammensetzungen, die alle das vorgegebene Thema umspielten und mal kürzer, mal länger ausdeuteten. Dabei konnten die Musiker (gen. masc.!) ihr hohes technisches und musikalisches Können beweisen, was sie mit viel Spielfreude und Engagement taten.

In der „Rezitation 4“ – wieder nach verbindenden Texten von Aart Veder – kam dann Bachs „Rache“ am Preußenkönig zu Gehör: die Triosonate für Flöte, Violine und Basso continuo über das vorgegebene Fugenthema. Der Flötenpart galt damals aufgrund der Flötentechnik und der Fähigkeiten selbst versiertester Flötisten schon wegen der für dieses Instrument ungewöhnlichen Tonart c-Moll als nahezu unspielbar, auf jeden Fall jedoch für den so ambitionierten wie eitlen Amateur-Flötisten Friedrich II. Der dürfte sich dessen auch bewusst gewesen sein und hat wohl deshalb nie auf die später zugesandten Kompositionen geantwortet, geschweige denn ein Honorar gezahlt. Ingo de Haas, Leevke Hinrichs und Julie Borsodi zeigten am Beispiel dieser Trio-Sonate ihr ganzes Können und schufen einen außergewöhnlich dichten Klangraum. Wirken Fugen per se schon außergewöhnlich dicht und komplex, so steigert sich das noch bei unterschiedlichen Instrumenten und deren vielfältigen Klangfarben. Man könnte durchaus behaupten, dass das Publikum nach dem letzten der vier Sätze nicht minder erschöpft war als das Trio auf der Bühne, das von Joachim Enders am Cembalo dezent begleitet wurde. Doch das Publikum achtete auf die besondere Aura sowohl der Aufführungsstätte als auch des musikalischen Materials und enthielt sich während des Konzerts jeglichen Beifalls.

Der folgte erst, nachdem Joachim Enders zum krönenden Abschluss die sechsstimmige Fuge zu dem Königsthema auf dem Cembalo gespielt hatte. Er zeigte dabei noch einmal nicht nur seine hohen technischen und musikalischen Fähigkeiten, sondern auch seine Energie und Konzentrationsfähigkeit, die dieses hochkomplexe Werk erfordert. Nicht umsonst gilt „Ein musikalisches Opfer“ als eines der bedeutendsten Werke Johann Sebastian Bachs, und das nicht nur in fugentechnischer Hinsicht. Will man ein so außergewöhnlich langes Thema in eine sechsstimmige Fuge umsetzen, dann erfordert das vom Komponisten nicht nur höchste musikalische Fähigkeiten, sondern einfach Zeit, denn das Thema tritt sechsmal nacheinander mit Verzögerung auf, und jede Stimme muss nach dem eigentlichen Thema mit den anderen – bereits vorhandenen und neu hinzutretenden – Stimmen abgestimmt und harmonisiert werden. Das ist bei Beachtung aller fugentechnischen Kriterien angesichts der Länge kaum zu schaffen. Doch Johann Sebastian Bach hat daraus ein einmaliges Kunstwerk geschaffen, und Joachim Enders hat es kongenial vorgetragen.

Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete ausgesprochen kräftigen, lang anhaltenden Beifall. Eine Zugabe konnte es nach diesem ultimativen musikalischen Programm natürlich nicht mehr geben.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar