Jenny Erpenbeck: „Kairos“

Print Friendly, PDF & Email

„Wirst du zu meiner Beerdigung kommen?“, fragt der ehemalige, 36-Jahre ältere Geliebte Hans seine inzwischen verheiratete ehemalige Geliebte Katharina in einem Café. So beginnt der 2021 bei Penguin erschienene Roman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck. Katharina verspricht, was sie nicht wird halten können, denn zum Zeitpunkt seines Todes ist sie nicht in Berlin, sondern in den USA.

Katharina begibt sich auf Spurensuche zu den Jahren mit Hans, als sie zwei Kartons mit Erinnerungsstücken von ihm erhält. Sie lässt ihre eigenen aufbewahrten Notizen mit denen des Verstorbenen in einen Dialog treten und die Jahre noch einmal Revue passieren. War es wirklich ein „glücklicher Moment“, ein Kairos, als sie am 11.Juli 1986 zufällig Hans begegnete? Die Antwort lässt Jenny Erpenbeck offen.

So hören wir als Leserinnen von einer Liebe, die sich für beide als das große Glück gestaltet, auch wenn die äußeren Umstände dagegen sprechen, denn er ist verheiratet. Die Liebesgeschichte ist eingebettet in das Alltagsleben in Ost-Berlin in der Vorwendezeit bis zum Mauerfall, sie umfasst die Jahre 1986 bis 1991.

Jenny Erpenbeck schildert an dieser Geschichte die Abgründe einer Liebe, die zu gegenseitiger Abhängigkeit führt, in der jedoch der viel ältere Mann zunehmend die Regie übernimmt. Geradezu manipulativ überzeugt er das 19-jährige junge Mädchen, dass er der Maßstab aller Dinge ist. Er bestimmt die Zeitpunkte der Begegnung, er bestimmt die Sex-Praktiken, er interpretiert für sie die sozialistische Welt, wie sie ist und wie sie noch besser sein könnte.

Beide haben keine Fragen an das System. An den beginnenden Montagsdemonstrationen beteiligt er sich nicht, unterzeichnet auch keine Appelle für einen reformierten Sozialismus. Er lebt in einer anderen Welt des Geistes, als Musikmoderator beim Rundfunk mit Schwerpunkt auf Bach, Mozart und Chopin wie auch als Schriftsteller, der an seinem ersten Roman sitzt. Sie will Gebrauchsgrafik studieren, er überzeugt sie aber, dass das Studium zur Bühnenbildnerin viel anspruchsvoller ist.

Wie die Gesellschaft der DDR zunehmend ins Rutschen kommt, so kommt auch diese Liebesbeziehung nach einem „Seitensprung“ von  Katharina ins Rutschen.

Hat er im ersten Jahr diese Liebe nahezu heiliggesprochen, so macht er sie nun zur Sünderin, die alles zerstört hat, ihre „Reinheit“ und seine Sehnsüchte. Je demütigender seine Bezichtigungen werden, desto mehr nimmt sie diese an, immer bemüht, sich zu ihm als ihre einzige große Liebe zu bekennen. Als Leserin fragt man sich, warum sie nicht ausbricht. Offenbar hat er sie so manipuliert, dass sie aus dem Teufelskreis von vermeintlicher Schuld und Liebesbegehren nicht herauskommt. So liest sich dieser Roman zunehmend als eine körperliche und geistige Missbrauchsgeschichte, die sich als Liebe tarnt. Wie ein Alibi wirken die Bemühungen des Liebhabers, sie zu seinen geistigen Höhen heranzuziehen.

Jenny Erpenbeck zeigt sehr subtil die Doppelmoral dieses Mitte Fünfzigjährigen, der in seiner Ehe bleibt und schon vor Katharina ständig Geliebte hatte. Für ihn gilt offenbar das Reinheitsgebot nicht. Wie labil er ist, zeigt auch der unkontrollierte Zigaretten- und Alkoholkonsum. Dass er sie angesichts seines eher spärlichen Einkommens ständig einladen kann, sogar in den Westen fahren kann, macht zumindest stutzig.

Insgesamt hat man als Leserin den Eindruck, dass die Menschen in der DDR auch sehr angenehm leben, sich nichts versagen müssen, den Sommer an der Ostsee verbringen und überhaupt recht zufrieden sind. So ist es für Katharina keine große Versuchung, als sie zum Geburtstag ihrer Großmutter nach Köln reisen darf. Eine Welt, in der es Bettler gibt, erscheint ihr nicht sehr erstrebenswert. Auch das Konsumangebot sieht sie eher kritisch, auch wenn sie sich mit dem von der Großmutter geschenkten Geld ein paar Kleidungsstücke genehmigt.

Den Abend des Mauerfalls verpassen die beiden, erst am nächsten Morgen erfahren sie davon. Auch diese neue Situation stürzt Katharina nicht in einen Rausch. Dem neuen Angebot begegnen sie und ihre Freundinnen eher zynisch: Sie „holen“ sich in den Warenhäusern, was sie unter ihren Jacken davontragen können. Die Kapitalisten muss man melken, nur nicht die kleinen Familienbetriebe.

Eine Rebellin ist Katharina nicht, aber in kleinen Schritten bewegt sie sich von Hans weg, ohne dass es ein wirklicher Bewusstseinsprozess ist. Die Erkenntnis, dass sie von einem Egomanen missbraucht worden ist, artikuliert sie nicht.

Mit den Umwälzungen der DDR -Welt verliert sich auch das Liebespaar.

Jenny Erpenbecks Figuren sind unmittelbar betroffen von der Auflösung von Betrieben, von Kündigungen gerade im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich. Was da geschehen ist, wird so als neues Unrecht sichtbar, wenn Existenzgrundlagen der Menschen vernichtet werden.

Jenny Erpenbeck zeichnet die DDR-Gesellschaft nicht romantisch-verklärend, aber doch als eine Welt, in der die Menschen einen durchaus zufriedenen Alltag leben können, wenn auch nicht alle Versprechungen des Sozialismus erfüllt werden. Es scheint, dass sie der Idee eines demokratischen Sozialismus verbunden ist und bedauert, dass die DDR so schnell bereit war, sich vom Westen kaufen zu lassen. Die Repressalien des Systems klammert sie allerdings weitgehend aus.

Ihre Figuren sind authentisch, sie lässt uns ganz nah an die Innenwelt der beiden Protagonisten heran, wenn sie ihre nicht ausgesprochenen Wünsche und Hoffnungen sprechen lässt, um sie dann immer wieder in einen Dialog treten zu lassen. So sehen wir sie als Leserinnen von innen und von außen. Dennoch erfahren wir nie alles, ganz zum Schluss allerdings ergeben sich noch neue Erkenntnisse.

Der Rückblick aus dem Abstand von etwa 30 Jahren auf das Leben in der DDR ermöglicht komprimierte Erfahrung. Was zunächst wie ein „Trümmerfeld“ aus Notizen, Zetteln und Erinnerungsstücken erscheint, wird in der Durchsicht zu einem Stück lebensgeschichtlichen Zusammenhangs. Die Protagonistin bewertet die Ereignisse nicht. Ob die Liebesbegegnung wie auch der Mauerfall ein „glücklicher Augenblick“, ein „Kairos“ war, müssen die Leserinnen und Leser für sich herausfinden.

Es lohnt sich, an die Arbeit zu gehen und den Roman zu lesen.

Der Roman ist im Penguin Verlag erschienen, hat 380 Seiten und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als Taschenbuch 14 Euro.

Elke Trost      

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar