Lisz Hirn: „Der überschätzte Mensch“

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Menschengemachter Klimawandel zusammen mit einer ungebremsten Vermehrung der Weltbevölkerung lassen die Selbstauslöschung der Gattung Mensch eine durchaus nicht unwahrscheinliche Zukunftsaussicht werden. Die Wiener Philosophin Lisz Hirn untersucht unter diesen Randbedingungen die Stellung und Selbsteinschätzung des Menschen im Kontext seiner belebten und unbelebten Umwelt.

Nach einem kurzen Prolog, der lakonisch den Bibelpsalm „Machet Euch die Erde untertan…“ zitiert und den Hochmut des sich, wenn nicht als „Krone der Schöpfung“, dann aber zumindest als privilegiertes weil höchstentwickeltes Lebewesen einschätzenden Menschen offenlegt, betrachtet die Autorin die Gattung des „homo sapiens“ aus vier Perspektiven, die jeweils mit einer (menschlichen) Tätigkeit benannt werden.

Das Kapitel „Essen“ hebt auf die Nahrungskette ab, an dessen oberem Ende offiziell ungefährdet der Mensch steht. Tiere dürfen das Fleisch ihresgleichen verzehren, Menschen das Fleisch der Tiere, das Fleisch der Menschen steht jedoch unter einem absoluten Verzehrtabu. Zwar wird gerade in der zeitgenössischen Philosophie der Mensch gerne als „Tier plus X“ bezeichnet, womit man sich wieder bescheiden in die Tierwelt einordnet, das hindert den Menschen aber nicht daran, Tiere ohne dieses „X“ industriell als Nahrungslieferanten zu züchten und zu töten. Zwar kennen einige Religionen „heilige“ Tiere, die nicht verzehrt werden dürfen, das hindert sie jedoch nicht daran, die unheiligen Tiere zu verspeisen. Das Verzehrtabu beinhaltet dabei prinzipiell das – auch selbständig geltende – Tötungsverbot, das jedoch in der immer noch existierenden Todesstrafe ausgehebelt wird. Der Kannibalismus ist durchgängig tabuisiert, weil das Verzehren vom Menschenfleisch die Gattung letztlich auf den Stand von Tieren zurückwerfen würde. Die Autorin geht dabei noch auf den historischen Brauch des Kriegskannibalismus ein, der jedoch angeblich aus ökonomischen Gründen abgeschafft wurde. Es war rentabler, Gefangene als Sklaven arbeiten zu lassen, als sie durch Verzehr auch noch der ultimativen Verachtung preiszugeben. Eben wegen dieses Verachtungskomplexes wurde der Kannibalismus schließlich vollständig geächtet.

Angesichts der immer stärker aufkommenden Tierethik stellt sich die Frage nach dem Verzehr tierischen Fleisches immer dringender. Die Klimaauswirkungen der Rinderhaltung tun ein Übriges. Dabei werden selbst Tierfreunde kritisch betrachtet, weil sie einen Unterschied zwischen niedlichen Haustieren und Nutztieren („Kalbsschnitzel“) machen. Um Fleischproduktion und -verzehr weiterhin aufrecht erhalten zu können, muss das Tier systematisch zu einem reinen Nahrungsmittelreservoir erniedrigt und der Mensch zu einem höheren Wesen geadelt werden.

Da das menschliche (und tierische) Fleisch wie alles Lebende vergänglich ist, ergibt sich das Thema des zweiten Kapitels – „Sterben“ – geradezu zwangsläufig. Hier diskutiert die Autorin detailliert die Position des Menschen gegenüber der eigenen Vergänglichkeit. Dabei stehen vor allem die Lebensverlängerung durch Medizin, aber auch das ewige Thema des Siegs über den Tod im Mittelpunkt. Solange dieser nicht besiegt ist und auch keine Aussicht darauf besteht, wird der eigene Tod tabuisiert. Gleichzeitig versucht der Mensch mit Hilfe der Technik – von der Prothese bis zur Kyrotechnik -, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Der Tod als kontingentes aber letztlich unvermeidbares Ereignis stellt die größtmögliche narzisstische Kränkung des Menschen dar, weswegen manche Philosophen schon früher erkannt haben, dass nur der Freitod dem Menschen die Würde der Selbstbestimmung verleiht. Gerade der Freitod eröffnet natürlich ein weites Feld von Fragen der Verantwortung – wem gegenüber auch immer. Im Rahmen dieser Ausführungen zitiert die Autorin ausgiebig Denker wie Nietzsche oder Foucault, um nur zwei zu nennen, die sich beide intensiv mit solchen Grenzsituationen des Lebens beschäftigten.

Eine andere Strategie, den Tod zu verdrängen, sieht die Autorin in der lückenlosen digitalen Verwaltung des Menschen, um so sein Wesen – früher die „Seele“ – irgendwie zu erhalten. Dies gipfelt in der wahrhaft science-fiction-haften Vorstellung, den Gehirninhalt und damit das Bewusstsein eines Menschen in der „Cloud“ sichern zu können. Angesichts des Themas der digitalen Verwaltung des Menschen gerät das Thema „Sterben“ etwas aus dem Blickpunkt, und die Autorin verliert sich über Seiten in einer Kritik der Tech-Konzerne – GAFA – und deren Datenmonopole. Das trifft zwar in der Sache jeweils zu, hat jedoch mit der Kapitelüberschrift „Sterben“ wenig zu tun.

Im Kapitel „Werden“ diskutiert sie genau das Gegenteil der Vergänglichkeit, das in der ebenfalls kontingenten Geburt sein treffendstes Beispiel findet. Auch hier zitiert sie wieder die Bibel, die Geist und Fleisch aufs engste verbindet, und widmet der philosophischen Frage, welches Ziel und welchen Zweck das Werden des Menschen habe. Dabei holt sie weit aus in Religion und Philosophie und zitiert die entsprechenden Einordnungen des „werdenden“ Menschen. Lange war er hierarchisch zwischen Gott und Tier eingeordnet, doch schon Nietzsche hat das durchaus anders gesehen. Die jüngere Rückführung ins Tierreich erfordert auf der einen Seite eine ganz andere ethische Haltung gegenüber der (tierischen) Umwelt, andererseits verlagert es die Verantwortung des Menschen für sich und seine Umwelt von der entlastenden göttlichen Instanz auf den Menschen selbst. Auch hier zitiert sie wieder den „Übermensch“-Begriff Nietzsches, ohne der Versuchung einer politischen Denunzierung zu erliegen. Als philosophische Vertreterin des 21. Jahrhunderts weiß sie, dass Nietzsche diese Forderung als Selbstverbesserung des Mängelwesens Mensch gemeint hat.

Mit der Verantwortung für die Welt ist der Mensch jedoch auch wieder dem Tierreich entschwebt, womit die für ihn die Frage nach seiner Identität stellt. Kein Gott, aber auch kein Tier – ein Existentialist? Hier eröffnen sich äußerst komplexe Fragen der Standortbestimmung des Menschen, die die Autorin anhand der Hypothesen verschiedener philosophischer Denker des letzten Jahrhunderts diskutiert. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass es keine oder zumindest keine einfache Lösung gibt. Man könnte es verkürzt so ausdrücken, dass eben die nicht endende Diskussion über den Standort des Menschen sein Wesen zum Ausdruckt bringt.

Im letzten Kapitel denkt die Autorin über das „Handeln“ nach, also über konkrete Aktivitäten des „gewordenen“ und noch nicht „gestorbenen“ Menschen. Hier sind die Technologie und speziell die KI zentrale Themen, weil sie von Anbeginn des Handeln des Menschen vereinfachen und dessen Mängel ausgleichen sollten. Die profane (und kurzschlüssige) Version von Nietzsches „Übermenschen“ besteht demnach in einem technisch hochgerüsteten und damit nicht mehr mangelhaften Menschen. Die KI als Gefahr für den Sinngehalt des bisher durch die Arbeit definierten menschlichen Lebens bildet dabei einen Schwerpunkt der Überlegungen. In diesem Zusammenhang verwendet die Autorin vermehrt den Begriff der bevorstehenden „Anthropolypse“, als einer „Apokalypse des Menschen“. Sie sieht dieses Ende der Menschheit in verschiedenen Varianten drohen: Atomkrieg, Klimakollaps, durch KI bedingten intellektuellen Kollaps oder eine beliebige Mischung daraus. Allerdings sieht sie noch einen Ausweg in der Stimme des Menschen, die ihn als unverwechselbares Kennzeichen zur authentischen Kommunikation untereinander und damit zur Aushandlung sozialer Konflikte befähigt. Sie erliegt jedoch nicht der Versuchung, über diese Besonderheit des Menschen gute Ratschläge politischer oder sozialer Aktivitäten zu erteilen. Dieses Buch ist kein Ratgeber für ein „gutes Leben im Alltag“, sondern es will Grundparameter des menschlichen Daseins ermitteln und entschlüsseln. Das ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt, die schon viele Denker vor ihr nicht erschöpfend haben beantworten können.

Lisz Hirns Leistung besteht darin, die intellektuellen und ethischen Problemstellungen ohne die Last vorgegebener Dogmen zu diskutieren, wobei sie sich auf eine Reihe philosophischer Größen der letzten zwei Jahrhunderte (und früher) stützt. Das führt zu einer Fülle von – gut dokumentierten – Zitaten, die die Lektüre nicht unbedingt vereinfachen. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass dieses Buch eher eine Zitatensammlung oder Zusammenfassung fremder Gedankengänge ist, aber bei genauerem Hinschauen stellt man doch fest, dass die Gedanken ihrer philosophischen Vorbilder hier eingeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden, so dass sich daraus ein konsistentes, wenn auch komplexes Denkgebäude entwickelt. Allerdings eignet sich dieses Buch nicht unbedingt als Strandlektüre für den Badeurlaub.

Das Buch ist im Zsolnay-Verlag erschienen, umfasst 126 Seiten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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