Giulia Caminito: „Das Wasser des Sees ist niemals süß“

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Ständig liest man in der Presse von Kinderarmut und armen Menschen, die finanziell unterstützt werden müssen. Aber was es wirklich bedeutet, jeden Cent dreimal umdrehen zu müssen, weiß der gutsituierte Bürger eigentlich nicht.

Giulia Caminito hat sich dieses Themas in ihrem bewegenden Roman angenommen. Die Handlung spielt im Italien unserer Tage in Rom und Umgebung. Im Mittelpunkt steht die Mutter Antonia, die eine sechsköpfige Familie durchbringen muss. Der Ehemann ist durch einen Unglücksfall querschnittsgelähmt und kann zum Familieneinkommen nichts mehr beitragen. Nach dem tragischen Unglück kommen in der Familie sogar noch Zwillinge zur Welt. Die Babys werden anfangs nicht in Kinderbettchen zum Schlafen gelegt, sondern müssen mit Pappkartons vorlieb nehmen.

Antonia kämpft wie eine Löwin beim Sozialamt für bessere Wohnbedingungen und nimmt alles, was sie kostenlos bekommen kann, ob Kleidung, Essen, Möbel oder einen ausrangierten Fernsehapparat. Dabei erzieht sie ihre Kinder streng und tut viel für eine bessere Bildung. Liebe und Empathie bleiben dabei jedoch auf der Strecke. Darunter leidet vor allem die Tochter Gaia, die sich ungeliebt fühlt und nur durch gute schulische Leistungen überzeugen kann. Getrieben von dem Wunsch, nach oben zu kommen, lernt sie wie besessen. Sie schafft sogar den Studienabschluss in Philosophie, um schließlich in der Arbeitslosigkeit zu enden.

Caminito verwendet für ihren Roman eine drastische, atemlose Sprache, die das Unterschichtsmilieu ohne Romantik oder Schönfärberei beim Namen nennt. Was zu ihrem Studienfach Philosophie geführt hat, beschreibt die achtzehnjährige Gaia folgendermaßen: „Es war zu leicht, sich in Sprachen, Literaturwissenschaft oder Politikwissenschaft einzuschreiben; es musste eine Geißel gefunden werden, es musste übertrieben, der grätenreichste Fisch aus dem Meer gefischt und mit offenem Mund verzehrt werden….“.

Zu ihrem Bruder sagt sie am Telefon: „Ich werde Marx studieren und endlich verstehen, was der Kapitalismus ist.“ Gaia ist im Laufe ihres Erwachsenwerdens immer radikaler geworden und merkt schon recht früh, dass alle Mühe, die sie sich gibt, nicht zur Anerkennung in der „besseren Gesellschaft“ führt.

Was ist das für eine Gesellschaft, die Giulia Caminito in ihrem Roman beschreibt? Strebsamen, fleißigen Unterschichtkindern wird der Aufstieg in höhere Schichten systematisch verwehrt. Der Makel der Armut haftet an ihnen wie ein Kleidungsstück oder – schlimmer noch – wie ein übler Geruch. Ein lesenswerter Roman, der sehr nachdenklich stimmt.

Das Buch ist im Wagenbach-Verlag erschienen, umfasst 311 Seiten und kostet 26,80 Euro.

Barbara Raudszus

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