Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

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Bei einer Routineuntersuchung erfährt der 76jährige Martin von seinem Hausarzt, dass er unter Bauchspeichelkrebs leide und höchstens noch ein halbes Jahr zu leben habe. Die Diagnose ist für ihn ein existenzieller Schock. Ab jetzt wird alles anders sein. Da es ihm bis auf die Erschöpfung noch gut geht, keimt in ihm noch die stille Hoffnung auf eine Fehldiagnose. Doch nach einigen euphorischen Momenten geht es ihm sukzessive schlechter.

Soll er seiner junge Frau und dem sechsjährigen Sohn David sagen, wie es wirklich um ihn steht? Was kann er seinem Sohn als Vermächtnis hinterlassen? Wie kann er seine Frau trösten? Soll er sich umbringen, um sich und seinen Angehörigen den Abschied zu erleichtern?

Sein Arzt rät ihm, nicht spontan aus dem Leben zu scheiden, sondern seinen Angehörigen einen geordneten Abschied zu ermöglichen. Die plötzliche Selbsttötung würde sonst bei Frau und Sohn lebenslange Traumata und vielleicht sogar Schuldgefühle hinterlassen. Das Gedankenkarussell kreist….

Martin nimmt alles um sich herum viel intensiver wahr als früher. Die letzten Wochen eines 76jährigen Lebens lassen jeden Moment besonders kostbar erscheinen. Die Nähe – besonders zu David – will er ganz bewusst erleben. Eine gemeinsame Wanderung über zwei Tage mit Rucksack und Übernachtung im Hotel wird zu einem ersten Vermächtnis. Ein Projekt, einen Komposthaufen anzulegen, eine Aufgabe, der sich beide stellen und die ihn, den Vater, überdauern wird. Ein Schreibtisch, vom Großvater geerbt, an dem auch sein Vater schon gearbeitet hat, wird zum Erbstück, das den Sohn an den Vater erinnern wird. Es sind kleine Gesten, die das Band zwischen Vater und Sohn festigen.

Dann das Stöbern im Buchladen. Auch das will Martin seinem Sohn hinterlassen. Er gibt dem Buchhändler ein paar tausend Euro, damit David immer mal wieder stöbern darf. Er selbst hat die Welt der Bücher erst mit zwölf Jahren entdeckt. Wie wird es bei David sein?

Als Ulla, Martins Frau, von Seinem Vermächtnis an David erfährt, ist sie wütend und verletzt. Sie empfindet das Verhältnis von Vater und Sohn als ungerecht, denn schließlich wird sie mit dem Sohn zurückbleiben. Warum möchte Martin den Sohn über seinen eigenen Tod hinaus festhalten? „David muss sich finden – und mich“ lauten Ullas Gedanken. Vermisst Ulla in ihrer Beziehung zu Martin etwas? Hat sie deshalb eine heimliche Liebschaft mit einem anderen Mann angefangen?

So muss die kleine Familie aus Vater, Mutter und Sohn mit der begrenzten gemeinsamen Zeit zurechtkommen. Jeder der drei Protagonisten findet seinen eigenen Weg, sich der neuen Lebensaufgabe zu stellen. Was zählt, ist das gemeinsame Beisammensein und die Liebe, die hilft, einander zu tragen.

Bernhard Schlink hat mit diesem Roman ein schweres Thema angepackt. Die Schwierigkeiten, die dmieser letzte, begrenzte Lebensabschnitt mit sich bringt, thematisiert er in großer Bandbreite. Was zählt, ist, das Leben bis zum letzten Augenblick zu leben, denn nur die Lebenden gehören zueinander. Der Tod ist das Ende. Die Erinnerung an Verstorbene mag positiv oder negativ immer wieder aufflackern, trägt aber nicht im Leben. Insofern sind Vermächtnisse nicht entscheidend. Wichtiger ist, den Sterbenden mit Liebe zu begleiten und ihn so beim Loslassen zu unterstützen. Für die Hinterbliebenen macht es das Verlassenwerden erträglicher.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 240 Seiten und kostet 26 Euro.

Barbara Raudszus

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