Mau/Lux/Westheuser: „Triggerpunkte“

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In den Medien häufen sich seit einiger Zeit die Nachrichten über eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung Deutschlands, nicht zuletzt aufgrund des Aufstiegs der AfD oder der widerstreitenden Meinungen zu Migration und Identitätsfragen.

Doch Polarisierung ist mehr als nur ein stark kontrastierendes Meinungsumfeld zu unterschiedlichen Themen. Dazu gehört die Bildung eindeutiger Lager, die nicht nur zu der Mehrheit der Themen unterschiedliche Meinungen vertreten, sondern deren Ansichten auch eine durchgängige logische Kontraststruktur bilden müssen, bei der zum Beispiel das eine Lager progressive und das andere konservative Züge zeigt. Im Extremfall können diese Züge moralischen Charakter annehmen, wobei jedes Lager die „richtige“ Moral für sich reklamiert.

Um dem aktuellen Polarisierungszustand in Deutschland auf den Grund zu gehen und nüchterne, evidenzbasierte Schlüsse ziehen zu können, haben drei Wissenschaftler – der Soziologieprofessor Steffen Mau, der Sozialwissenschaftler Thomas Lux und der wissenschaftlicher Mitarbeiter Linus Westheuser – eine empirische Studie erarbeitet, die sich dieses Themas „en detail“ annimmt und auf der Basis bereits existierender sowie selbst erstellter Umfragen ein klares Bild der gegenwärtigen Situation erstellt.

Um die Vielfalt der (Konflikt)-Themen zu strukturieren, haben sie das gesellschaftliche Problemumfeld in vier Bereiche aufgeteilt, die man in erster Näherung als voneinander unabhängig betrachten kann. Der Bereich „Oben – Unten“ deckt das klassische „linke“ Aktionsfeld mit Einkommens- und Vermögensungleichheiten ab, der Bereich „Innen – Außen“ beinhaltet im Wesentlichen die Migration, im Bereich „Wir – Sie“ sind sexuelle Selbstbestimmung und Identität sowie Gendersprache enthalten, und der Bereich „Heute – Morgen“ behandelt die aktuelle Situation und die Spätfolgen des Klimawandels.

In einer ersten Analyse haben die Autoren vorhandene und eigene Umfragen auf diese Bereiche abgebildet und eine erste Übersicht ohne Berücksichtigung der sozioökonomischen Situation der Befragten erarbeitet. Schon dabei fällt auf, dass die Antworten moderater als befürchtet ausfallen. In allen Bereichen lässt sich feststellen, dass die Antworten grundsätzlich im Sinne der „offiziellen“ Meinungen ausfallen. Sowohl die meritokratische Struktur unseres Wirtschafts- und Sozialsystems wie auch Migration (im Sinne von Flüchtlingshilfe), das selbstbestimmte Geschlecht sowie ein aktives Konzept gegen den Klimawandel werden begrüßt. Die Einschränkungen erfolgen dann jeweils nach dem Prinzip des „Ja, aber…“.

Ist diese Erkenntnis bereits eine kleine Überraschung, so bestätigt sie sich bei der Berücksichtigung des sozioökonomischen Umfelds, das zum Beispiel den „Produktionsarbeiter“, den „kulturellen Experten“, den „Arbeitgeber“ – alle Begriffe übrigens „genderfrei“! – sowie andere soziale Klassifikationen enthält. Die Analyse ergibt hier zwar, dass der „Produktionsarbeiter“ vorwiegend die konservative bzw. nationale/partikularistische Sicht vertritt und der „Kulturelle Experten“ meist an der Spitze der Progressivität steht, doch dass die Spannbreite bei weitem nicht für den Begriff der Polarisierung reicht. Diese hat das Team dann noch mit vorgegebenen Antworten von der „vollen Zustimmung“ bis zur “ vollen Ablehnung“ im Bereich von -2 bis +2 normiert, um damit letztlich auch die Polarisierungsgrade bestimmen können, zum Beispiel zwischen „Produktionsarbeiter“ und „Kultureller Experte“. Auch diese Analyse ergab wiederum eine bei einigen Themen zwar existente, jedoch durchweg erstaunlich geringe Polarisierung. Nur einzelne Fragen bei „Innen – Außen“ und auch in den anderen Bereichen führten zu einer signifikanteren Polarisierung.

Die Autoren untersuchen dann die sogenannten „Triggerpunkte“, bei denen die Affekte bis hin zur Empörung einsetzen. Diese erfolgt immer dann, wenn ein grundsätzliches Gerechtigkeitsgefühl verletzt wird. Das trifft sowohl für den protzenden Multimillionär zu als auch für den Sozialhilfeempfänger, der sich in die „soziale Hängematte“ legt. Dabei haben die Autoren ein „Sozialparadox“ identifiziert, das darin besteht, dass gerade im unteren Einkommens- und Bildungsbereich angesiedelte Probanden weniger den erfolgreichen (kapitalistischen) Unternehmer als die ihnen ökonomisch auf den Fersen hockenden Hartz-IV-Empfänger angreifen. Das meritokratische Prinzip – harte Arbeit und Fleiß lohnen sich – ist vor allem in den unteren Schichten noch intakt.

Die Autoren analysieren auch die Gründe für dieses Verhalten. Dass die (obere) Mittelschicht sich progressiv und universalistisch gibt, führen sie einerseits auf die relative ökonomische Sicherheit zurück, andererseits aber auch auf den aus dieser Sicherheit erwachsenden Hang zur Singularität gemäß Reckwitz. Die unteren Schichten dagegen haben mit anderen, täglichen Problemen als der eigenen „Singularität“ zu kämpfen. Daher rührt laut den Autoren auch deren „Duldungstoleranz“ gegenüber sexuellen Minderheiten, die sich in Äußerungen wie „Sollen doch machen, was sie wollen. Ist mir sch….“ niederschlagen. Diese Schichten fühlen sich laut dem Autorenteam durch Überschreitungen einer so gefühlten wie verbindlichen „Normalität“ provoziert und können daher keine „Respekttoleranz“ üben.

In einem weiteren Schritt suchen die Autoren nach bereichsübergreifenden Zusammenhängen, werfen also – nach eigenen Worten – die Probleme wieder in einer gemeinsamen Topf, um zu untersuchen, ob es doch allgemeine Konflikte im Sinne eines Lagerdenkens gibt. Doch auch hier halten sich die Polarisierungsgrade deutlich in Grenzen, wenn man überhaupt davon sprechen kann. Die Menschen denken offensichtlich nicht in umfassenden Ideologien, wie es früher(?) die Religionen taten, sondern immer noch problemspezifisch.

Zum Ende diskutieren die Autoren noch einmal die gefühlte Polarisierung, die sie auf kleine, aber laute Minderheiten am Rande der Gesellschaft zurückführen, etwa Klima-Aktivisten oder Aktivisten der „Cancel Culture“. Derzeit seien diese noch keine Gefahren im Sinne einer Lager-Bildung wie in den USA, das könne sich aber ändern, wenn man diesen Minderheiten nicht mit klaren Maßnahmen gegenübertrete. Das könne natürlich nicht durch juristische oder andere gewaltähnliche Aktionen erfolgen, sondern müsse sich in einer zwar konfrontativen aber stets sachlichen und faktenbasierten Art und Weise abspielen. Die Bevölkerung sei aus heutiger Sicht an einer sachlichen Lösung der anstehenden Probleme durchaus interessiert und bereit zu Zugeständnissen, aber radikale Zuspitzungen von den rechten oder linken Rändern könnten die Situation leicht eskalieren.

Wissenschaftliche Publikationen unterliegen heutzutage nicht mehr unbedingt der Voraussetzung vorurteilsloser, neutraler Analyse. Im Gegenteil, parteiisches Engagement wissenschaftlicher Autoren gilt durchaus als legitim bis hin zur „Anpassung“ der Fakten, beispielsweise in der Klimaforschung. Man kann darüber kontrovers diskutieren, ohne die neutrale Beobachterrolle zu beschwören. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Autoren des vorliegenden Buches sich durchgängig um die konsequente Einhaltung eben dieser neutralen Position bemühen. An einigen Stellen mit besonders „moralischem“ Tiefgang spürt man einen Hauch persönlicher Meinung, mehr aber nicht. Man kann dies als Schwäche oder Stärke betrachten, der Rezensent zieht letzteres vor. Die Bewertung eines Sachverhalts ist nur möglich auf der Basis einer möglichst sachlichen und unvoreingenommenen Darstellung, ganz wie in der Rechtsprechung. Diese Grundhaltung haben sich auch die drei Autoren des Buches zu eigen gemacht, und das ist gut so.

Das vorliegende Buch ist ein außerordentlich wichtiger weil treffsicherer Beitrag zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte und sei jedem Interessenten empfohlen, der den sachlichen, evidenzbasierten Blick auf die Welt allen ideologischen Spekulationen vorzieht.

Das Buch ist in der „edition suhrkamp“ erschienen, umfasst einschließlich Anmerkungsteil 531 Seiten und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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