Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

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Mit seinem 2023 erschienenen Roman „Lichtspiel“ steigt Daniel Kehlmann tief ein in die Welt der Filmkunst in Österreich nach dem sogenannten „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Im Mittelpunkt steht die Figur des Regisseurs G.W.Pabst, der mit Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und Ernst Lubitsch zu den Starregisseuren der Stummfilm-Zeit in den 1920er und 1930er Jahren zählte. Es geht um die ungewollte Verstrickung eines großen Künstlers in die nationalsozialistische Kulturideologie.

Die drei Abschnitte „Draußen“, „Drinnen“ und „Danach“ gliedern den Roman nach den wichtigsten Stationen in Pabsts Leben und Karriere.

„Draußen“ schildert die Zeit der Emigration nach Kalifornien(1934 bis 1936), wo Pabst vergeblich versucht in der Filmszene Fuß zu fassen. Kehlmanns Kunst ist es, diese Phase in einzelnen Episoden der Wiederbegegnung mit inzwischen in den USA mehr oder weniger erfolgreichen Emigranten sichtbar zu machen, etwa mit Greta Garbo, die Pabst seinerzeit in Deutschland groß gemacht hat, oder mit der US-amerikanischen Schauspielerin Louise Brooks. Daraus ergibt sich die Verknüpfung mit der Erinnerung an Pabsts große Zeit in der Weimarer Republik. Nicht so Film affine Leserinnen und Leser erhalten nebenbei eine Einführung in die Filmgeschichte und die Funktion von Beleuchtung und Schnitt, die für den schwarz-weißen Stummfilm von besonderer Bedeutung waren. 

Pabst kehrt mit seiner Familie schon 1936 nach Paris zurück, um ein großes Filmprojekt zu realisieren, das sich jedoch zerschlägt. Deshalb fasst Pabst 1938 den Plan, in die USA zurückzukehren. Kehlmann gelingt es meisterhaft, alle Erfahrungen und Entscheidungen, die auf historisch belegten Dokumenten beruhen, fiktional in szenisches Erzählen umzusetzen und so die inneren Prozesse in Pabst und anderen Figuren in seinem Umfeld sichtbar zu machen. Die fiktionale Erzählung erlaubt es, nach dem historisch nicht Bekannten zu suchen und eine Darstellung zu finden, wie es hätte gewesen sein können. Den Leserinnen und Lesern obliegt es, dem zu folgen oder aber die Plausibilität zu hinterfragen und sich selber an die Recherche zu machen.

Diese Erzählweise wird im Abschnitt „Drinnen“ noch raffinierter. Hier erzählt Kehlmann wieder in sehr verdichteten Szenen die unfreiwillige „Rückkehr“ der Familie Pabst in das inzwischen „angeschlossene“ Österreich. Eigentlich sollte es nur ein Abschiedsbesuch bei der alten Mutter in der Steiermark sein, danach wollte man zurück in die USA. Sie werden jedoch überrascht von der Kriegserklärung und der Schließung aller Grenzen.

Im Kleinen wie im Großen erlebt die Familie die unselige Verwandlung der Menschen. Aus dem dienstbeflissenen Hausmeister auf dem Pabstschen Anwesen ist ein niederträchtiger Ortsgruppenleiter geworden, der die Umkehrung der sozialen Ordnung auf dem Anwesen betreibt und mit seiner ganzen Familie die eigentlichen Hausbesitzer demütigt und erniedrigt.

Kehlmann zeigt an diesem Mikrokosmos das zunehmende Eindringen von Angst und Bedrohung in die Gesellschaft, insbesondere den unverhohlen gezeigten Antisemitismus. Die Fiktionalisierung erlaubt die Individualisierung, die auf die größeren Zusammenhänge verweist. Kehlmann verstärkt die Wirkung der zunehmend bedrückenden Situation durch häufigen Perspektivwechsel. Wir erleben etwa die inneren Nöte von Pabsts Frau Trude, die kaum fassen kann, dass Pabst sich von Göbbels Propagandaministerium instrumentalisieren lässt.

Schon in den USA  hat einer von Göbbels Handlangern versucht, Pabst nach Deutschland zurückzulocken. Damals ohne Erfolg. In Österreich aber  sitzt Pabst in der Falle. Man kann ihm alles anbieten: KZ oder großen Erfolg, unbegrenzte Ressourcen, Schauspieler nach seinen Wünschen, soweit sie noch in Deutschland sind.

Eine der Glanzszenen des Romans ist Pabsts Vorladung zu Göbbels persönlich, die wir ganz aus Pabsts Perspektive erleben. Wie im Taumel stolpert Pabst in den riesigen Büroraum, an dessen anderem Ende Göbbels Schreibtisch wie ein Thron aufgebaut ist. Diese Inszenierung der Macht ist schon per se einschüchternd und für den auf Widerspruch eingestellten Pabst nicht beherrschbar. Kehlmann klagt nicht an, sondern versucht zu verstehen, wie der zynische Sadismus eines Göbbels auch dem kritischsten Geist keine Chance lässt, es sei denn, er riskiert sein Leben und auch das seiner Familie. Unwillkürlich drängt sich hier der Gedanke an Brechts Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“ auf, die genau diese Frage aufwirft, wie man der Gewalt begegnen kann: Soll man zum Märtyrer werden, als Toter aber dann nicht mehr gegen die Gewalt kämpfen können? Oder dient man der Gewalt, bis sie nicht mehr besteht, um dann für eine bessere Welt zu kämpfen?

Kehlmann lässt durch dieses episodische Erzählen spüren, wie das Klima der Angst in alle Lebensbereiche eindringt. Die Pabsts leben inzwischen in einer herrschaftlichen Wohnung in München. Er drängt seine Frau, an dem Lesekreis von Frauen einflussreicher Männer teilzunehmen. Hier geht es nur scheinbar freundlich belanglos zu. Alle Teilnehmerinnen belauern sich gegenseitig, jede hütet sich, den falschen Schriftsteller zu verehren oder gar sich ein Urteil anzumaßen, denn ein wahrer deutscher Schriftsteller steht über jedem Urteil. Sollte sich doch eine vergessen, wird sie von der Gastgeberin herzlich ausgeladen. Trude erträgt das nicht und zieht sich immer mehr zurück, greift wohl auch zunehmend zum Alkohol.

Auch unter den Jugendlichen werden neue Männlichkeit und Härte zur Norm. Das erfährt der Sohn Jakob in der Schule. Er lernt sehr schnell, wie man sich Autorität und damit Macht verschafft. Pabst kann nur zusehen, wie die HJ seinen Sohn indoktriniert. Kritik wäre lebensgefährlich. Auch das erleben wir unmittelbar aus der Sicht Jakobs.

Zur Selbstdarstellung bedient sich das System gerne inhaftierter ausländischer Größen, etwa wenn für die Premiere eines Pabst-Films „internationales“ Publikum erwünscht ist. Dazu hat man z.B. einen britischen Schriftsteller, der zwar Kriegsgefangener ist, aber mit allem Luxus im Adlon leben kann, wenn er dafür solche „Einsätze“ mitmacht und im Übrigen Propaganda-Texte für das britische Publikum verfasst. Diese absurde Szene verfolgen wir aus der Sicht des britischen Schriftstellers. Als Vorlage dient Kehlmann hier der britische Bestseller-Autor P.G.Wodehouse.

Seine ganze Kunst der psychologischen Ergründung der historischen Person Pabst präsentiert Kehlmann, wenn er den geradezu besessenen Regisseur Pabst bei seinem letzten Film im dritten Reich 1944/45 begleitet. Gegen die widrigsten Umstände, trotz herannahender sowjetischer Truppen, arbeitet Pabst mit seinem Assistenten an der Herstellung des Films. Um ihn herum geht die Welt unter, für Pabst aber zählen nur Bildfolgen, Licht und Schnitt. So wird die ganze Ambivalenz dieser Person deutlich, die sich für unpolitisch hält, sich aber dennoch in jeder Minute  mitten im Strudel des Weltgeschehen befindet.

Das dem Roman vorangestellte Zitat Heimito von Doderers zeigt die ganze Ambivalenz des kritischen Geistes, der sich wider besseres Wissen mit der Macht arrangiert.

Der dritte Abschnitt „Danach“ gibt Einblick in die neuerliche Zeitenwende nach 1945 und  Pabsts Kampf um einen Neuanfang.

Das erste und das letzte Kapitel des Romans spielen in unserer Gegenwart. Der inzwischen greise und etwas altersverwirrte ehemalige Regieassistent des längst verstorbenen Pabst bemüht sich verzweifelt um seine Sicht auf den Film von 1945, der als verschollen gilt. Auch hier entwickelt Kehlmann eine überraschende Idee, wie es zu dem Verlust des Films gekommen sein könnte. Für die Leserin erklärt sich das erste Kapitel erst aus dem allerletzten.

Insgesamt ist „Lichtspiel“ ein ungemein vielschichtiger Roman, der die Möglichkeiten der literarischen Darstellung von historischen Ereignissen und Personen  ausschöpft. Nur Literatur kann Horizonte aufreißen, die jenseits des historisch Faktischen liegen, kann Möglichkeiten entwerfen, Interpretationen zur Diskussion stellen.

Ein unbedingt lesenswertes Buch, das geradezu ein „Pageturner“ ist und nach der Lektüre zur Reflexion auffordert. Niemand wird hier verurteilt, vielmehr werden die Menschen gezeigt und analysiert. Die weitere Arbeit ist Aufgabe der Leserinnen und Lesern.

Der Roman ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 477 Seiten und kostet 26 Euro.

Elke Trost

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