Uwe Timm: „Alle meine Geister“

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Das 2023 erschienene Buch „Alle meine Geister“ von Uwe Timm enthält keinen Hinweis auf die literarische Gattung. Und das ist auch gut so, denn dies ist kein Roman, auch kein autofiktionaler. Vielmehr ist es ein Rückblick des 1940 geborenen Autors auf seinen eigenen „Bildungsgang“.

Uwe Timm lässt als über 80-jähriger die Entwicklung seines Geistes – oder aller seiner Geister – Revue passieren, wirft Schlaglichter auf einschneidende Anregungen, zufällige, oft „anarchische“ Begegnungen mit Literatur und Philosophie zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr. Ganz unsystematisch findet er Zugang zu Klassikern der Literaturgeschichte. Timms Rückblick ist nicht melancholisch oder bedauernd, vielmehr eher staunend, wie er in die Welt der Literatur eher hineinstolpert, als sie systematisch kennenzulernen.

Ganz am Anfang in der Kindheit steht die Begegnung mit Grimms Märchen und 1001 Nacht, mit Märchen also, die die Imaginationskraft des Kindes herausfordern.

Das aber ist nur der Beginn, die Kindheit in Krieg und Nachkriegszeit wird auf anderthalb Seiten abgehandelt. Uwe Timm wächst im zerstörten Hamburg auf, der Vater macht, auch eher zufällig, ein Kürschnergeschäft auf, ohne das Handwerk gelernt zu haben, und bringt es zu solidem Wohlstand.

So ist es das Naheliegendste, dass auch der Sohn etwas Solides lernen soll. Mit 15 muss er die Schule verlassen und eine Kürschnerlehre  antreten. Der 15-jährige nimmt das gelassen und ohne Protest hin. Im Gegenteil, er gewinnt zunehmend Freude an dem genauen Arbeiten, entwickelt Disziplin und Selbstkritik, aber auch Kreativität in diesem Handwerk und bringt die Lehre zu einem sehr guten Abschluss.

Timm scheint sich noch im Rückblick an sich selbst zu erfreuen, mit welcher Beharrlichkeit dieser junge Mann voranschreitet, bereit ist, aus Fehlern zu lernen, zu korrigieren, wo es nötig ist, um schließlich ein perfektes Produkt zu erstellen. Er glaubt, dass er dadurch die nötige Disziplin fürs Schreiben erworben hat. Denn auch Schreiben lebt vom Überarbeiten, Streichen, Korrigieren, vom selbstkritischem Blick auf das eigene Produkt.

Nebenbei erfahren wir als Leserinnen und Leser eine Menge über die Verarbeitung von Fellen (Ich weiß jetzt, dass Fehfelle Eichhörnchenfelle sind), aber wichtiger noch über den Pelzmantel als Statussymbol des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1950er Jahren. Mit Erstaunen liest man, dass es noch überhaupt kein Bewusstsein von Artenschutz gab, dass die seltensten Tiere ohne Skrupel sowohl auf Seiten der Kürschner als auch insbesondere auf Seiten der Frauen dafür herhalten mussten, Wohlstand zu repräsentieren. Ich erinnere mich noch gut an alle die Persianer- und Nerzmäntel, die bis weit in die 60er Jahre zum guten Ton gehörten.

Timm beschreibt die Veränderungen in der Branche, die nicht etwa durch Artenschutzbewusstsein  entstanden, vielmehr durch Billigprodukte, die in Kaufhäusern zu erwerben waren und das solide Handwerk bedrohten.

Parallel zu seiner handwerklichen Meisterschaft, auf die Uwe Timm ganz offenbar immer noch stolz ist, entwickelt der junge Mann das Bedürfnis zu schreiben. Immer wieder begegnet er merkwürdigerweise in der Kürschnerei Menschen, die lesen und ihm Hinweise geben. Offenbar gibt es da etliche, die durch den Krieg aus der ursprünglich bildungsbürgerlichen Bahn geworfen wurden und jetzt mit einem Handwerk ihren Broterwerb sichern wollen.

Früh, schon als Schüler, liest Uwe Timm Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, ganz naiv betroffen, ohne die vielen Bezüge zu erkennen. Und so geht es weiter mit Salingers „Fänger im Roggen“, später mit Gedichten von Gottfried Benn, mit Dostojevski, Der Idiot, es folgen später Tolstoi, Camus, Sartre, Brecht, Thomas Mann und schließlich Gedichte von Ingeborg Bachmann.

Fast mit Rührung blickt Uwe Timm auf diesen Heranwachsenden, der sich im Zickzack durch die Literatur liest, vieles nicht oder nur halb versteht, aber intuitiv gefesselt ist. Timm versucht sich immer wieder zu erinnern, wie er damals gelesen hat, was ihn gerührt oder erschüttert hat, bei Dostojevski z. B. die Episode mit der chinesischen Vase. Das alles ist ganz uneitel erzählt, vielmehr mit dem Staunen, wie er sich als junger Mensch nebenbei in Literatur versenken konnte.

Da wird dann in alten Ausgaben gestöbert, da werden Bücher noch einmal gelesen, gleichzeitig Erinnerungen wachgerufen, wer ihn wann auf welchen Titel hingewiesen hat oder welches Mädchen ihm zum Ende der Beziehung „Die Anhörung des großen Bären“ von Ingeborg Bachmann geschenkt hat. Der Name des Mädchens will in der Erinnerung nicht mehr hochkommen, wohl aber das Gefühl der Enttäuschung und des Zurückgewiesen-Werdens.

Timm zeichnet in seinem Erinnerungsprozess die gesellschaftliche Enge der 1950er Jahre mit ihren strengen moralischen Regeln. Zu einer Party erschienen die jungen Männer im Anzug und mit Blumenstrauß für die Mutter der Einladenden. Und natürlich gab es auf diesen  Partys keinen Alkohol. Schwierig auch, erste sexuelle Erfahrungen zu sammeln, denn es gab keinen Ort, schließlich galt noch bis 1973 (!) der Kuppeleiparagraph. Sex vor der Ehe sowie homosexuelle Handlungen waren ebenfalls bis 1973 verboten. 

Dennoch erlebt der junge Timm die Ahnung einer aufkommenden neuen Jugendkultur. Jugendbands versuchen sich in Jazz, der über die amerikanischen Besatzer nach Deutschland schwappt. Mädchen ziehen die Röcke höher, sobald die Mütter sie nicht mehr sehen können. Die jungen Leute versuchen, die engen Regeln zu umschiffen, wo es geht. Der Wunsch nach Unabhängigkeit nimmt zu. Timm begegnet jungen Leuten, die auf Umwegen alte Autos erwerben, sie reparieren und entweder weiterverkaufen oder aber für erste Reisen benutzen.

Im Strudel des Wirtschaftswunders hoffen einige junge Leute in Timms Umgebung auf das große Geschäft, sie entwickeln zum Teil verrückte Ideen, man möchte ganz schnell ganz viel Geld verdienen und fällt dann damit nicht selten auf die Nase.

Timm selber macht diese Spielchen nicht mit, zu sehr ist er dem Handwerk verpflichtet. Dennoch wächst der Wunsch, das Abitur nachzuholen und dann Literaturwissenschaft und Philosophie zu studieren. Dazu nimmt er Latein- und Griechischunterricht bei einem alten Lehrer, der mehr oder weniger eine verkrachte Existenz ist und von seiner Vergangenheit als anarchistischer Kämpfer träumt. Timm lernt mehr über Anarchismus als über griechische Grammatik.

Kurios sein weiterer Blick in die 70er Jahre, der durch den RAF- Terror bestimmt war. Timm hatte Schwierigkeiten bei Polizeikontrollen. Er vermutete, dass das an einem Essay über Anarchismus lag, den ein ebenfalls in Hamburg geborener Namensvetter veröffentlicht hatte und der ihm zugeschrieben wurde. Tatsächlich aber galt er selbst als verdächtig, weil in seinem ersten Roman „Heißer Sommer“ ein Flugblatt mit abgedruckt war, das Strategien für den Umgang mit der Polizei und insbesondere für deren Austricksen bei Demonstrationen enthielt.

Die Ausblicke auf seinen späteren Erfolg sind sehr zurückhaltend, werden nur erwähnt, wenn sie für den Kontext wichtig sind.

Der „anarchische“ Bildungsgang wird dann mit der Aufnahme in das „Braunschweig-Kolleg“ in systematische und strukturierte Bahnen gelegt. Timm holt das Abitur nach und wird dann mit dem Studium beginnen.

Diesen weiteren Teil seines Bildungsgangs beschreibt Timm nicht mehr, offenbar weil mit dem bestandenen Abitur ein konventioneller, „normaler“ Weg beginnt. Das braucht er uns nicht mehr zu erzählen, viel wichtiger ist ihm der Weg dahin. Man spürt große Dankbarkeit für alle die Menschen, die ihn auf dem holperigen Weg unterstützt haben. Es bleibt auch der Stolz auf den jungen Mann, der sich nicht zufrieden gibt und sein Traumziel nicht aus den Augen verliert. Den Neuanfang startet dieser junge Mann sehr verantwortungsbewusst. Zunächst wird nach dem Tod des Vaters das Geschäft entschuldet und auf eine festere Basis gestellt, der Ausstieg aus dem Geschäft und die Übergabe an die Mutter geschehen mit aller Umsicht. Aus dem bisher gut verdienenden jungen Mann wird nun ein Student, der mit dem Stipendium auskommen muss und sein geliebtes VW Cabrio verkaufen muss. Aber da ist kein Bedauern, sondern Freude auf den neuen Weg.

Man kann sich fragen, wer die Adressaten für diese Geschichte sind. Es müssen wohl Leser und Leserinnen sein, die mit den Titeln etwas anfangen können. Ob jüngere Leser sich für das gesellschaftliche Klima der 1950er Jahre interessieren, ist die Frage. Als ältere Leserin erkenne ich vieles wieder, erinnere ich mich mit Uwe Timms Erinnerungsprozess an eigene Erfahrungen und Erlebnisse, wenn auch alles ein paar Jahre später mit „Twist“ und den „Beatles“.

Für mich war es eine sehr berührende Lektüre, die ich besonders meinen Altersgenossinnen und Altersgenossen sehr empfehlen kann. 

Das Buch ist im Kiepenheuer&Witsch Verlag erschienen. Es hat 280 Seiten und kostet 25 Euro.

Elke Trost

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