Elizabeth Strout: „Am Meer“

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Elizabeth Strout setzt sich in ihrem Roman „Am Meer“ mit der Zeit des Corona-Lockdowns in New York und später in Maine auseinander. Ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Lucy Barton wird von ihrem Ex-Mann dringend ersucht, New York wegen des Corona-Virus so schnell wie möglich zu verlassen. Die noch um ihren verstorbenen Ehemann David trauernde Lucy lebt in völliger Ahnungslosigkeit über die Pandemie, lässt sich aber darauf ein, mit William New York zu verlassen und vorläufig nach Maine zu übersiedeln. Dort hat ihnen Bobs Freund William ein großes Haus hoch oben über dem Meer auf einer Felsspitze vermittelt. Die Miete beträgt nur ein Viertel von Lucys Miete für ihre New Yorker Wohnung.

Auf der Fahrt dorthin fallen Lucy Einweghandschuhe und Masken im Auto auf. Ihre Ahnungslosigkeit gipfelt darin, dass sie nicht weiß, wozu diese Dinge gut sein sollen. Als der Wohnungsvermittler von einer vierzehntägigen Quarantäne spricht, weiß Lucy mit dem Begriff nichts anzufangen. Hier wird deutlich, wie überraschend das Virus zuschlug und weshalb in New York so viele Menschen Opfer von Corona wurden.

Lucy hasst anfangs an dem gemieteten Haus den Geruch nach Meer und anderen Menschen. Auch die Möblierung entspricht gar nicht ihrem Geschmack. Doch die Aussicht auf das offene Meer und die auf die Felsen prallende Brandung findet sie beeindruckend. Erste Spaziergänge führen Lucy in die Umgebung, wobei sie ständig friert und an ihre Kindheit denken muss, in der es an allem gefehlt hat, besonders aber an Wärme.

Am nächsten Tag erfährt sie von William, dass ihre Bekannte Elsie Waters an dem Virus gestorben ist. Weitere New Yorker Freunde sind ebenfalls erkrankt, und die Ärzte lassen sie nicht mehr in ihre Praxisräume. Die Theater am Broadway werden geschlossen, und die Warnungen über das Corona-Virus bestimmen die Nachrichten im Fernsehen. „Und dann sahen William und ich im Fernsehen zu, wie New York von einem Grauen überrollt wurde, für das mir die Worte fehlten.“

Im weiteren Verlauf des Romans lebt Lucy im Lockdown. Plötzlich hat sie unendlich viel Zeit, sich über sich und ihr Leben Gedanken zu machen. Wie geht es ihren beiden Töchtern? Was treibt die Menschen in Beziehungen und wieder aus ihnen hinaus? Wie wäre es wohl, jemand anderes als man selbst zu sein? Welche verletzenden Situationen hat sie schon in ihrem Leben erlebt, und warum fühlt man sich verletzt?

Aber auch immer wieder spürt sie die Freude an ihren beiden erwachsenen Töchtern Chrissy und Becka. „Ich habe in meinem ganzen Leben nichts so Schönes gesehen wie diese Mädchen. Diese Frauen. Meine Töchter.“ Lucy empfindet eine unendliche Liebe zu ihren Töchtern, aber die gemeinsamen Treffen fallen unterschiedlich aus – einmal himmelhoch jauchzend, einmal zu Tode betrübt. „Welche Gnade, dass wir nicht wissen, was uns im Leben erwartet.“ Wie wahr!

Der Roman endet mit Lucys Gefühlen der Bangigkeit um sich selbst und um die Welt im Allgemeinen. In diesem Spannungsverhältnis leben wir alle und müssen unseren je eigenen Weg gehen.

Das Buch ist im Luchterhand-Verlag erschienen, umfasst 285 Seiten und kostet 24 Euro.

Barbara Raudszus

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