Emmanuel Carrère: „V 13 – Die Terroranschläge in Paris, Gerichtsreportage“

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Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère hat für das Nachrichtenmagazin „Nouvel Observateur“ den Prozess zu den Anschlägen vom Freitag, den 13. November 2015, verfolgt, der sechs Jahre nach den Anschlägen im September 2021 begann und sich über 9 Monate hinzog. Seine Prozessbeobachtungen fasst Carrère abschließend in der Gesamtreportage „V 13“ zusammen. Der Titel steht für „Vendredi Treize“, Freitag, der 13.; die deutsche Ausgabe behält diesen Titel bei.

Dieser Mammutprozess ist in drei Phasen gegliedert. Zuerst geht es um die Aussagen der ca. 1800 unmittelbar oder mittelbar Geschädigten, die als Nebenkläger auftreten. In der zweiten Prozessphase werden die 14 Angeklagten befragt. Die dritte Phase gilt den Plädoyers der Opfer-Anwälte und den Plädoyers der Verteidigung sowie schließlich dem Urteil. Die Anklageschrift wertet auf 378 Seiten die Ermittlungsakte aus, die 542 Bände umfasst und angeblich insgesamt 53 Meter hoch ist.

Emmanuel Carrère ist an fast allen Tagen anwesend, um sich ein möglichst objektives Urteil über diesen Prozess bilden zu können.

Bei aller Sachlichkeit der Darstellung erspart uns Carrère nicht die direkte Konfrontation mit dem  Grauen an den Anschlagsorten, wie es aus den Aussagen der unmittelbar Betroffenen in ihrem je individuellen Erleben noch einmal ins Bewusstsein aller Anwesenden, und nun auch der Leserinnen und Leser, dringt. Im Raum steht die Traumatisierung derjenigen, die sich retten konnten, deren Leben durch das Erlebnis wenn nicht zerstört, so doch in seinen Grundfesten erschüttert ist. Da sind die, die nur um ihr eigenes Leben rannten und sich jetzt schuldig fühlen, weil sie nicht geholfen haben und weil sie überlebt haben. Da sind die, die neben sich junge Menschen haben sterben sehen und nichts tun konnten, wie diejenigen, die ihrem sicheren Tod ins Auge zu sehen glaubten und dennoch überlebten.

Das müssen alle im Gerichtssaal aushalten wie auch wir als Leserinnen und Leser, die wir die Stimmen nicht unmittelbar hören, aber dennoch das Leiden und Sterben miterleben.

Die Aussagen der mittelbar Geschädigten, also derjenigen, die einen Sohn oder eine Tochter verloren haben, einen geliebten Menschen, die Freundin oder den Freund. Besonders bewegend ist an deren Aussagen, dass sie die Getöteten als fröhliche, junge Menschen schildern, die das Leben genießen wollten.

Carrère berichtet auch von Trittbrettfahrern, die sich mit Opfervereinigungen als „Gutmenschen“ hervortaten, bis sie als völlig Unbeteiligte und Nicht-Betroffene entlarvt wurden.

Die Lektüre dieses Kapitels ist die größte Herausforderung für die Leserinnen und Leser, weil Carrère uns wirklich nichts erspart. Die Täter erscheinen als kaltblütige, unmenschliche Mörder, denen man die Höchststrafe wünscht. Dieses Gefühl läuft jedoch ins Leere, weil die Mörder sich in die Luft gesprengt haben, bis auf einen, der dann aber bei seiner Verhaftung von der Polizei erschossen wurde.

Als Beschuldigte in der zweiten Phase des Prozesses bleiben 14 junge Männer in Hoodies und Jogginghosen, die auf den ersten Blick wie ganz normale, unbedarfte Jugendliche wirken. Elf von ihnen sitzen in einer Glasbox, denn ihnen wird eine unmittelbare Tatbeteiligung im Sinne der Logistik vorgeworfen. Drei sind auf freiem Fuß, sie erscheinen jeden Morgen zum Prozess. Bei ihnen ist nicht klar, ob sie bei ihren logistischen Aktivitäten in die Anschlagsplanungen überhaupt eingeweiht waren oder ob sie aus Brüderlichkeit geholfen haben, wenn sie darum gebeten wurden. Für sie wird entscheidend sein, ob sie „nur“ als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung (AM, „Association de malfaiteurs“) oder als Mitglieder  einer terroristischen Vereinigung (AMT, „Association de malfaiteurs terroristes“) verurteilt werden.

Carrère verfolgt die Befragung der jungen Täter mit besonderem Interesse. Der Vorsitzende Richter hält die Regeln der Prozessordnung penibel ein, um keinen Anlass für Misstrauen gegenüber der Rechtsstaatlichkeit zu geben. Zunächst geht es um Angaben zur Person, erst danach um die Fakten und die Hintergründe des Radikalisierungsprozesses.

Einige der Angeklagten erweisen sich als durchaus raffiniert in ihren Aussagestrategien, machen nur sparsame Aussagen zu ihrer Person, monieren sofort, wenn Richter oder Staatsanwälte schon in den Bereich der Fakten gehen, obwohl die Trennung sehr schwierig ist.

Als eine wesentliche Zelle der Radikalisierung zuvor eher unauffälliger Jugendlicher erweist sich das Problemviertel Molenbeek in Brüssel, aus dem die Täter angereist sind. Die Identifikation mit dem IS hat jedoch tiefer liegende Gründe, die in der repressiven Politik Assads in Syrien liegen. Da Frankreich sich in Syrien gegen den IS engagiert hat, gilt Frankreich als ein Objekt des Hasses. Gezielt geht es, ideologisch untermauert, gegen die unmoralische Lebensweise der ungläubigen jungen Menschen. Das erklärt,  warum die Anschläge nicht in den Pariser Touristenzentren geplant wurden, sondern eben da, wo sich junge Leute treffen: beim Rockkonzert im Bataclan, im Fußballstadium, in Cafés der Amüsiermeilen.

Zu den Taten sagen die jungen Männer nicht aus, Schweigen ist die Strategie. Erst ganz zum Schluss sagt einer derjenigen aus, deren Schuld nicht klar ist. Für sie geht es darum, ob sie nur als „AM“ verurteilt und dann mit den sechs Jahren Untersuchungshaft die Strafe schon abgesessen hätten.

Carrère gelingt es, seine Reportage auch in dieser Phase des Prozesses mit großer emotionaler Distanz festzuhalten, ohne einerseits die „armen Jungs“ zu romantisieren, als seien sie aus Naivität in die Fänge des IS geraten, andererseits auch ohne sie als die Inkarnation des „Bösen“ zu dämonisieren. Es ist ganz offenbar auch die große Leistung der Prozessführung, professionelle Neutralität zu bewahren.

In der dritten Phase des Prozesses, in der die Anwälte plädieren und in der es dann zu den Urteilssprüchen kommt, spürt man beim Autor nun doch ein Wechselbad der Gefühle.

Nach den Plädoyers der ca. 150 Opferanwälte, die sich im Sinne des Prozessverlaufs in Gruppen zusammengetan haben, ist die Erschütterung wohl aller Anwesenden noch einmal so groß, dass für alle Täter die Höchststrafe angemessen scheint.

Doch auch die Pflichtverteidiger der Angeklagten ziehen alle Register und relativieren zumindest das Bild der Täter. Carrère weist dabei auch auf die unterschiedlichen Bedingungen der Anwälte hin. Die Opferanwälte verdienen zum Teil das Zehnfache dessen, was die Anwälte der Verteidigung verdienen, wenn auch ein gewisser Ausgleich gegeben ist. Die Anwälte der Täter sind meist junge Anwälte, die sich noch profilieren wollen und in ihre Plädoyers ihr ganzes juristisches Können einbringen. Zumindest für die drei offenbar unwissenden „Helfer“ lohnt sich das. Sie können den Gerichtssaal nach dem Urteilsspruch als freie Männer verlassen, da sie nur als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung (AM) verurteilt werden.

Carrères Reportage gibt ein umfassendes Bild der Ereignisse am 13. November 2015 und  deren Hintergründe.

Wer sich stark genug fühlt, das alles noch einmal zu lesen, sollte es unbedingt tun. Ich habe das Buch fast an einem Tag durchgelesen. Besonders beeindruckt hat mich der Einsatz Carrères, der für neun Monate sein Alltagsleben neu organisieren musste, um seine Beobachterposition durchzuhalten. Dafür gebührt ihm großer Respekt.

Das Buch ist in der Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Hamm im Verlag Matthes & Seitz erschienen. Es hat 278 Seiten und kostet 25 Euro.

Elke Trost   

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