Michael Lichtwarck-Aschoff: „Der Perückenmacher von Königsberg“

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Kant ist „in“, kein Wunder angesichts seines 300. Geburtsjahres. Doch neben all den intellektuellen und ethisch-moralischen Würdigungen gibt es auch kritische Stimmen, etwa zu Kleists Rassismus. Außerdem besteht offensichtlich ein Bedürfnis, die Beschränkung dieser Retrospektive auf ein gesellschaftlich höher stehendes Publikum – vulgo: „Elite“ – aufzubrechen und die Frage in den Raum zu stellen, was denn der Schöpfer des berühmten kategorischen Imperativs und sein Werk dem sogenannten „Mann von der Straße“ zu sagen haben. Schon Felix Heidenreich hat mit seinem Buch „Der Diener des Philosophen“ die Perspektive von Kants Diener Lampe ausgeleuchtet, und nun setzt Michael Lichtwarck-Aschoff die Sicht eines fleißigen Kleinbürgers dagegen, der als Perückenmacher zwangsläufig mit den Damen und Herren der Gesellschaft verkehrt, wenn auch nur beruflich.

Der Autor tritt jedoch nicht als allwissender Erzähler auf, sondern versetzt sich in den Urgroßenkel des Perückenmachers, der auf die Tagebücher seiner Urgroßmutter gestoßen ist. Was diese Erzählerposition betrifft, bleibt sie jedoch weitestgehend anonym. Lichtwarck-Aschoff verortet ihn einmal 150 Jahre nach der geschilderten Episode (ca. 1775), später sogar 300 Jahre! Betrachtet man die Ahnenfolge, dann dürften drei Generationen nicht mehr als neunzig Jahre Differenz ausmachen, die Erzählzeit also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen. Diese Unklarheiten spielen aber keine Rolle, da über diese Zeit sowie nichts gesagt wird. Der Ton des Berichts atmet eine gewisse historische Naivität, wie sie in der vorwissenschaftlichen Zeit geherrscht haben mag; so lässt der Autor im Erzählstil des Urenkels noch einmal Kants Zeit entstehen: ein Anachronismus, der jedoch in einem Roman nicht verboten ist. Der Autor verzichtet jedoch bewusst auf einen Gattungsbegriff und ermöglicht so eine freie Interpretation von Roman bis Sachbuch. Der Grund mag darin liegen, dass das Anfangs erwähnte Tagebuch eine literarische Erfindung ist, der Autor jedoch bewusst den Anschein des Dokumentarischen erwecken möchte.

Der Perückenmacher Étienne verkehrt zwar beruflich mit Kant und dessen Freundeskreis bis hin zum Königsberger Adel, aber stets in der Funktion des dienstbaren Handwerkers und nie auf intellektueller Augenhöhe. Er bewundert den scharfen Denker Kant, versteht aber dessen Aufklärung nur rudimentär, weil sein eigener Alltag ganz andere, handfeste Anforderungen stellt. Doch auch er ist „Aufklärer“, propagiert er doch die Abschaffung der klebrigen Perücken und den luftigen Facon-Schnitt (mit C-Cedille).

Doch Étienne steht in der Geschichte nicht allein für die unteren Schichten. Am Hof der adligen Kunden lehrt die irgendwo aus Frankreich gebürtige Dienstmagd Johanne die Kinder des Grafen Französisch. Wegen ihrer Sprachkenntnisse und ihres sehr hübschen Äußeren lässt die Gräfin sie auch an Abendessen mit Kant und dessen Freunden teilnehmen, während Étienne sie nur vom gemeinsamen Essen mit dem Gesinde kennt. Den verfügbaren Tagebüchern der Ur-Oma entnimmt der fiktive Urenkel, dass Johanne unter anderem für die „Leibwäsche“ der an den gräflichen Abendessen teilnehmenden Herren zuständig war, und zwischen den Zeilen vernimmt der Leser, dass diese Leibwäsche wohl einen wesentlichen breiteren Dienstleistungsbereich umfasste. Sowohl die knappe Dokumentenlage des fiktiven Urenkels als – vielmehr! – auch die geringe reale historische Faktenlage sind wohl der Grund dafür, dass dieser Sachverhalt bei verdichteten Gerüchten verharrt. Doch sowohl die „Herrschaften“ als auch Johanne betrachten diese asymmetrischen Machtverhältnisse eher als dem sozialen Ständewesen angemessen denn als empörend.

Die eigentliche Handlung des Buches fasst der Autor noch in eine Rahmenhandlung, der zufolge der Perückenmacher vor eine amtliche Kommission gerufen wird, um im Zweifel peinliche Fragen zu beantworten. Ganz wie in Kafkas „Prozess“ sitzt Étienne einen ganzen Tag vor der Tür der Kommission, jeden Minute den Aufruf erwartend und fürchtend, ohne dass irgendetwas geschieht. Während dieser Zeit kommen ihm all die Gedanken zu Kant, dessen Freundeskreis, zu den Adelskreisen und zu Johanne. Am Ende teilt uns der Urenkel dann mit, dass nach einem kleinen Skandal um Johanne diese vom Hof vertrieben wurde, beim Perückenmacher Unterschlupf fand und dass dieser eines Nachts wutenbrannt zum Grafen fuhr, um Abrechnung zu halten. Nur ein Zufall(?) verhindert den ganz großen Skandal, in den wahrscheinlich Kant selbst verwickelt gewesen wäre.

Und in diesem letzten Drittel schält sich auch immer deutlicher die eigentliche Botschaft des Buches heraus. Ein Student Kants nimmt dessen Lehren wörtlich – ähnlich wie 1968 die Frankfurter Studenten Adornos Lehren – und will sie an einzelnen Personen umsetzen. Dabei zitiert er auch die Rassenlehre Kants, nach denen die „weiße Rasse“ die höchststehende und die „schwarze Rasse“ die unterste, nicht entwicklungsfähige sei. Kants Überlegungen zu Rasse, Sinnlichkeit, Scham und verwandten Themen vermischt dieser junge Student unentwirrbar miteinander sowie mit den Prinzipien Aufklärung und trägt damit Kants – mehr als fragwürdige – Theorien zu einigen Punkten auf schrille Weise an die damalige Öffentlichkeit und an die heutigen Leser heran. In seiner verwirrt-fanatischen Diktion muten die (Irr-)Lehren seines Lehrers Kant besonders abwegig an.

Lichtwarck-Aschoff lässt es sich denn auch nicht nehmen, in einer Nachbemerkung selbst Stellung zu nehmen zu Kants Rassentheorien und die Leser aufzufordern, sich anhand einer beigefügten vierseitigen Abschrift von Kants Thesen sich selbst eine Meinung zu bilden. Seine zumindest steht fest, auch wenn er den Lesern ein Tor zur eigenen Meinungsfindung offen lässt.

Ein Jubiläumsbuch, dass dem Jubilar nicht in hehren Worten huldigt, sondern ihn als – auch – irrenden Menschen zeigt. Es ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 200 Seiten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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