Zuviel des „Guten“…

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Moral steht allerorten hoch im Kurs, sei es in der Politik, in den Medien oder in der Kunst. Klima- und Corona-Krise befeuern diese Tendenz noch, sehen doch viele Künstler und Intellektuelle die Welt in einer apokalyptischen Situation. Da ist dann die Ab- und Aufrechnung im Sinne eines „jüngsten Gerichts“ nicht weit.

Ensemble

Das Staatstheater Darmstadt hat sich Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“ vorgenommen und ihn in der neuen Übersetzung von Swetlana Geier von Andreas Merz-Raykov auf die Bühne bringen lassen. Swetlana Geier hat den Roman konsequent in eine moderne Alltagssprache übersetzt, die bis an den Rand des Jargons geht. Das ist durchaus nachvollziehbar, da sicherlich auch das reale Personal von Dostojewskis russischer Welt seinen eigenen Jargon gesprochen hat, der mal frivol, mal sarkastisch und mal zynisch ausgefallen sein dürfte. Regisseur Merz-Raykov hat dazu eine zeitweise surreal anmutende Bühnenfassung erarbeitet, die weniger auf eine konsistente Handlung als auf handfeste gesellschaftliche und psychologische Situationen hinausläuft. Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens haben dazu ein Bühnenbild und Kostüme beigesteuert, die diesen Trend unterstützen. In der Mitte der Drehbühne bilden ein raumhoher Metallrahmen als abstrakte Karikatur eines Triumphbogens sowie eine verschiebbare beleuchtete Treppe die Bühnenkulisse. Für einzelne Szenen werden vom Bühnenpersonal – bewusst offen! – Tische und Stühle für entsprechende Tischszenen installiert und auch wieder entfernt. Der weitgehende Verzicht auf die fiktionale Illusion beginnt bei der Bühne und setzt sich in der Inszenierung fort, einschließlich selbstreferenzieller und anderer Effekte der Meta-Ebene. Die Kostüme betonen das Groteske der Figuren und sind selbst satirische Kommentare zu diesen.

Jessica Higgins als Fürst Myschkin

Die Inszenierung entwickelt einen unüberhörbaren Lehrstückcharakter, so wenn die handelnden Personen über das Gute und seine Ambivalenz diskutieren oder gar dozieren. Die eigentlichen Handlungselemente dienen dabei nicht als narrativer Selbstzweck sondern als Stichworte für die echten oder vermeintlichen Erkenntnisse des Autors und der Regie.

Der Ausgangspunkt bietet sich wegen seiner quasi-religiösen Konstellation für ein Lehrstück geradezu an: der junge Fürst Myschkin kommt nach langem Sanatoriumsaufenthalt ohne jegliche gesellschaftliche Erfahrung in St. Petersburg an und stößt dort auf die in Interessen, Intrigen und erotischen Leidenschaften verstrickte Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht Nastassja Filipownaja, die Mätresse eines reichen alten Mannes, der sie pro Forma gegen Geld an einen unbedeutenden jungen Mann verheiraten will, um die Form zu wahren aber weiterhin Zugriff auf sie zu haben. Doch der Kaufmann Rogoschin liebt sie ebenfalls und überbietet den Liebhaber. Nastassja selbst ist durch die zynische Doppelmoral der herrschenden Schicht längst desillusioniert und versucht einerseits, alle gegeneinander auszuspielen, träumt aber andererseits immer noch vom eigenen Glück. Da kommt der naive, gutgläubige und gutwillige Myschkin gerade richtig. Er will alle glücklich sehen und stellt für sich selbst keine Forderungen. Nicht nur Nastassja ist von dieser Selbstlosigkeit gerührt, sondern auch Aglaia, eine von drei (!) Töchtern des pensionierten Generals Jepantschin, die nur eins im Sinn hat: sich aus den engen Konventionen dieser Gesellschaft zu befreien. Da kommt eine naive Lichtgestalt wie Fürst Myschkin gerade recht.

Der Roman entwickelt eine ausgesprochen komplexe psychologische, gesellschaftliche und politische Handlung um diese Protagonisten herum, wobei auch Revolutionäre und politische Ideologien eine Rolle spielen. Die Darmstädter Inszenierung reduziert diese Handlung mehr oder minder auf das Kernpersonal und deren Drei- und Vierecksbeziehungen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Konfrontation der – aus Dostojewskis Sicht – gottlosen und verdorbenen Gesellschaft mit dem reinem Guten. Die Regie geht denn auch folgerichtig den Weg, Fürst Myschkin zu einem zweiten Jesus zu stilisieren. Bewusst hat Merz-Raykov diese Rolle mit einer Frau (Jessica Higgins) besetzt, um so das hilflos Gutmütige dieser Figur auch optisch herauszustellen, der jegliche „männliche“ Attitüde abgeht. Die Überhöhung dieser Rolle zeigt sich daran, dass er Jessica Higgins im zweiten Teil in einem hautengen Anzug auftreten lässt, der durch entsprechende Bemalung den Körper des toten Jesus einschließlich der Speerwunde nachbildet.

v.l.n.r.: Jessica Higgins, Karina Derr,
Ani Aghajanyan, Karin Klein, Edda Wiersch

Myschkin liebt sowohl Nastassja als auch Aglaia, und sogar seinem „Konkurrenten“ Rogoschin bringt er Sympathien entgegen. Er sieht ihn nicht als erotischen Mitbewerber und damit Gegner, sondern als einen unglücklichen Menschen, dem man helfen muss. Aus dem gleichen Grund will er Nastassja heiraten: er sieht ihr Unglück und die schlechte weil begehrliche Behandlung durch die Männer, aber er empfindet keine erotische Liebe. Die beiden Frauen zieht diese Selbstlosigkeit und „reine“ Menschenliebe als Gegensatz zur üblichen männlichen Begierde zwar an, andererseits fühlen sie sich durch das fehlende männliche Begehren bei Myschkin auch herabgesetzt. Am Ende kann Myschkin keiner Frau Glück bringen, und die Enttäuschung darüber führt zu einem erneuten Epilepsieanfall, während Rogoschin die gehassliebte Nastassja aus Verzweiflung umbringt.

Merz-Raykov packt in diese Inszenierung einige Ideen, die mal mehr, mal weniger mit der Thematik zu tun haben. So steigert sich Edda Wiersch als Aglaia derart in ihre Wutreden über die erstarrte Gesellschaft hinein, dass sie unversehens in den Text der Irina von Tschechows „Drei Schwestern“ verfällt, worauf die Schwester rufen „das ist Tschechow“ und in Gelächter über diesen literarischen Epochenvorgriff ausbrechen. An anderer Stelle beklagt der heruntergekommene Vater von Nastassjas Scheingatten Gawrila, dass es nur noch tote Seelen gebe und geht diesem – ebenfalls literarischen – Begriff in einem kurzen Dialog mit dem Publikum nach. Gogol war´s!

Jessica Higgins und
Robert Lang-Vogel

Auch das Gendern wird nicht vergessen. Dostojewskis Passagen über Feminismus und Frauenfragen zitiert Merz-Raykov, indem er Gawrilas Schwester Warwara mit einem Mann (Hans-Christoph Hegewald) besetzt. Nachdem dieser die Rolle über lange Strecken ordentlich gespielt hat, legt er plötzlich die Frauenkleidung ab, setzt zu einer Suada über die Unterdrückung der Frauen durch feste Rollenzuschreibungen an und erklärt seinen Ausstieg aus der Produktion. Dieser Auftritt changiert gekonnt zwischen einem echten Protest gegen Usancen von Theater und Öffentlichkeit und einem parodistischen Zitat des Gender-Aktionismus. Gegen Ersteres spricht die Einbettung in die Inszenierung (ohne Abbruch!), gegen Letzteres der Mangel an satirisch-karikaturistischer Schärfe. Ambivalenz eben.

All diese Selbstreferenzen des Theaters als Verhandlungsort der großen gesellschaftlichen Themen haben neben ihrer Berechtigung durchaus auch ihren intellektuell-satirischen Reiz und sogar Witz. Doch der Abschlussappell von Jessica Higgins alias Fürst Myschkin (oder umgekehrt) ist denn doch des „Guten“ zuviel und überspannt den Bogen hin zum Moralisieren. Wie schon Volker Rueb bei der Othello-Inszenierung im letzten Jahr kann sich auch Merz-Raykov die moralische Standpauke mit unverhohlenem Pathos nicht verkneifen. Das latent Phrasenhafte des Pathos wird umdefiniert zur fast schon heiligen Ansprache ans Publikum Zwar erspart sich die Regie – wir nehmen nicht an, dass sich Jessica Higgins den Text selbst ausgedacht hat – die expliziten Verweise auf Klima- und Flüchtlingskrise und zielt nur auf die im „Idioten“ dargestellten menschlichen Abgründe, doch man darf dem Publikum unterstellen, sich selbst einen Reim auf die Inszenierung machen zu können und muss nicht in paternalistischer Art noch auf das „gute und wahre „Leben hinweisen. Das Stück selbst gibt genug her, und das muss man nur gut aufführen. Die Darsteller haben das in dieser Inszenierung überzeugend getan, allen voran Jessica Higgins, und benötigen nicht noch eine nachgeschobene Aussage für die Intensivierung ihrer Wirkung.

Frank Raudszus

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