Daniel Kehlmann: „F“

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 Die Stille des Mittelmaßes und die große Geste des Scheiterns

Daniel Kehlmann hat seinen Durchbruch im literarischen Betrieb mit einer Doppelbiographie erzielt, den Lebensbeschreibungen Alexander von Humboldts und Carl Friedrich Gauß´ in „Die Vermessung der Welt“. Dort hat er zwei historische Gestalten romanhaft beschrieben, sich dabei aber soweit möglich an Fakten und Dokumente gehalten. In seinem neuen Roman geht es ebenfalls um Lebensentwürfe, jedoch um rein fiktive Personen aus der heutigen Zeit.

Kehlmann schildert einen kurzen Zeitabschnitt aus dem Leben dreier Brüder, wobei sich die wesentlichen Handlungsstränge an einem einzigen Tag abspielen. Die Rückblenden jedoch gehen zurück bis in die frühe Jugend der Protagonisten. Das „F“ steht für den Anfangsbuchstaben des Familiennamens „Friedland“.

Die Brüder bilden ein asymmetrisches Dreieck. Martin, der älteste, stammt aus der ersten Ehe des Vaters Arthur, die Zwillinge Iwan und Eric aus der zweiten. Arthur selbst ist bereits als Archetypus konzipiert. Als erfolgloser Schriftsteller lebt er vom Geld seiner Frau, unternimmt jedoch keinerlei aktive Versuche, seine Situation zu reflektieren oder gar zu ändern, woran auch die erste Ehe scheitert. Arthur schreibt und denkt und denkt und schreibt. Seine literarische Erfolglosigkeit lähmt ihn buchstäblich, jedoch, ohne dass er deswegen in eine Depression verfällt. Frei nach Camus muss man sich Arthur als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Doch bei dem Besuch eines Hypnotiseurs zusammen mit seinen drei Söhnen stößt ihn dieser mit direkten Fragen und Feststellungen derart kompromisslos auf seine ausweglose Situation, dass er auch seine zweite Familie verlässt und fernab der Gesellschaft sein literarisches Werk nicht nur fertigstellt, sondern damit auch zu einem gefeierten Poeten des Nichts wird. Denn in seiner Literatur predigt er die Nichtexistenz des Ichs und der Welt. In einer fast beißender Satire schildert Kehlmann einen Schriftsteller, der mit der Feier der Bedeutungslosigkeit und einer konsequenten Absage an jeglichen Lebenssinn Bedeutung gewinnt und literarischen Erfolg erzielt. Auf der anderen Seite gibt diese Figur wie ein literarischer Wegweiser – ein „Vater“ halt – die Marschroute für die Interpretation der Lebensläufe seiner Söhne vor: es ist zwecklos, einen „Sinn“ darin zu suchen, gar einen teleologischen. Die Biographien sind zwar durch die Charaktere der Personen, aber zum großen Teil auch durch zufällige externe Ereignisse bestimmt, die teils fatale, teils groteske glückliche Folgen zeitigen.

Der Vater und der Hypnotiseur tauchen von Zeit zu Zeit wie Schattenfiguren auf und üben einen fast rätselhaften Einfluss auf das Geschehen aus, jedoch stets in knappen Szenen mit kryptischen Aussagen. Man könnte sie auch als Leitmotive bezeichnen, die in gewissen Abständen die Richtung vorgeben.

Martin, der älteste der drei Brüder, hat schon als junger Mann kein Glück mit den Mädchen und entscheidet sich früh, diese Seite des Lebens „ad acta“ zu legen. Weniger aus Neigung denn aus intellektueller Bequemlichkeit wird er katholischer Priester, obwohl er nicht gläubig ist. Er nimmt einfach an, dass sich der Glaube schon im Zuge der Ausbildung einstellen werde. Als er diesen Glauben im Priesterseminar geradezu heraufbeschwört, halten das seine Ausbilder für eine besonders intensive Art des Glaubens, doch Martin wird bis ans Ende des Buches so gut wie nichts von der katholischen Glaubenslehre annehmen und erfüllt seine priesterliche Pflicht mit souveräner Routine. Dieser ironische Seitenhieb auf die Kirche bleibt dann aber auch der einzige.

Die Zwillige sind in gewisser Weise orthogonale Charaktere. Eric ist der knallharte Pragmatiker, der schon früh einen Sinn für die materielle Seite des Lebens entwickelt. Er wird Vermögensberater und führt einen entsprechenden Lebensstil, mit schöner, aber vernachlässigter Frau und ebenso – seelisch – vernachlässigter Tochter. Dieses Paar scheint aus dem Klischeebuch des Finanzwesens entsprungen. Eric selbst hat jedoch etwas vom Spieler an sich, und als er erste Liquiditätsengpässe mit Kundengeldern durchsteht, ist das der Anfang vom Ende. Die schlechter werdende Marktlage erfordert weitere dieser illegalen Maßnahmen, und zum Zeitpunkt der Handlung steht er unmittelbar vor dem Ruin, ohne dass seine Kunden oder seine Umwelt es ahnen. Ein gemeinsames Mittagessen mit Martin erlebt der Leser aus beiden Perspektiven, wobei er erst bei der zweiten – Erics – Schilderung die Situation wirklich versteht.

Iwan dagegen ist schon als Kind künstlerisch veranlagt und beschließt, Maler zu werden. Als ihn der erwähnte Hypnotiseur bei einem zufälligen(!) späteren Treffen suggestiv nach diesen Plänen befragt, erkennt er seine künstlerische Mittelmäßigkeit und entscheidet sich für die Laufbahn des Kunstkritikers und Galeristen. In diesem Zusammenhang lernt er einen bekannten zeitgenössischen Maler kennen, den er mit sehr eigenwilligen und wenig legalen Mitteln zur Kunstikone umformt. Dazu muss er jedoch ein geheimes Doppelleben führen, das letztlich seine eigene Seriosität als Kritiker vollständig zunichte machen würde, wenn es ans Tageslicht käme. Er scheitert jedoch nicht an diesem Doppelleben, sondern an einem geradezu lächerlichen Zusammenstoß mit der nackten Gewalt, bei dem er in einem Anfall von Zivilcourage unfreiwillig den tragischen Helden spielt. Davon wissen schließlich – eine weitere ironische Wendung – nur der Leser und die für sein Ende verantwortliche Person.

Eric dagegen rettet die Finanzkrise von 2008, die plötzlich alle Verluste in Schicksalsschläge einer höheren Marktgewalt verwandelt und seine eigenen Delike unter den Tisch fallen lässt. Er ist zwar pleite und geschieden, kommt jedoch über das Erbe des verschwundenen Bruders an dessen umfangreichen Bilderbestand und verhökert sie buchstäblich, um seine drängendsten finanziellen Probleme zuz lösen. Als echter Spieler sieht er sofort wieder eine zweite Chance und sich bald wieder hoch im Sattel sitzen. Diese Wendung seines Schicksals schreibt er – als agnostischer Bruder eines nicht-gläubigen Priesters – ausgerechnet einer auf ihn gerichteten göttlichen Kraft zu und wendet sich daher dem christlichen Glauben zu.

Die drei Lebenslinien sind durch dritte Figuren oder durch Gespräche und Treffen miteinander verschränkt, so dass der Leser immer wieder einerseits die jeweilige Situation aus einer anderen Sicht kennenlernt, andererseits aber auch die Zufälligkeit der Ereignisse erkennt. Kehlmann hat mit diesem Buch eine Zeitdiagnose über die Welt des Glaubens, des Kommerzes und der Kunst gestellt. Alle drei Bereiche werden schonungslos und streckenweise satirisch aufs Korn genommen, jedoch ohne, dass Kehlmann deswegen die Moralkeule schwingt. Das Finanzwesen betrachtet er als großes Spiel, unter dessen Auswüchsen Spieler und Nichtspieler leiden, den Kunstmarkt als einen einzigen (Selbst-)Betrug mit narzisstischem Einschlag, und die Religion ist für ihn längst in beamtenähnlicher Routine ohne echten Glauben erstarrt. Er hütet sich jedoch, diese praktizierte Agnostik mit einem moralischen Bann zu belegen, und belässt es bei der Diagnose.

Die Beschränkung auf die Schilderung der Welt, wie Kehlmann sie sieht, und die genaue und glaubwürdige Konturierung der einzelnen Charaktere lassen dieses Buch zu einer durchaus spannenden, deswegen aber nicht trivialen Lektüre werden. Daniel Kehlmann wirft einen geschärften Blick auf die aktuelle gesellschaftliche Situation und trifft mit seinen Beobachtungen den Nagel weitgehend auf den Kopf.

Der Roman „F“ ist im Rowohlt-Verlag unter der ISBN 978-3-498-03544-0 erschienen, umfasst 380 Seiten und kostet 22,95 €.

Frank Raudszus

 

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