Die Leere zwischen Trauma und Zukunftswahn

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Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“.

Was bringt man am Ende einer zehnjährigen Theater-Ära auf die Bühne? Wie verabschiedet sich ein Ensemble, das sich in wenigen Wochen in alle Himmelsrichtungen zerstreuen wird? Wie wird man der Abschiedsstimmung gerecht? Man könnte ein rauschendes Abschiedsfest auf der Bühne veranstalten, etwa mit komödiantisch überbordendem Boulevard-Theater, aber das würde nicht ganz die Seelenlage der Darsteller treffen, die sich in Kürze mit den konkreten Problemen des Vertragsendes auseinandersetzen müssen.

Ensemble

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Schauspieldirektor Martin Apelt wählte daher mit Maxim Gorkis Darstellung der Spätzeit eines überkommenen Systems ein melancholisch bis schwermütig angehauchtes Werk. Gorki beschreibt in diesem Stück – ähnlich wie sein Landsmann Anton Tschechov – den lethargischen und ziellosen Zustand der zaristischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Typischerweise stehen in diesen Stücken die führenden Schichten der Gesellschaft im Mittelpunkt: Gutsbesitzer, Intellektuelle, Künstler und aufsteigende Geschäftsleute. Die eigentlich leidende Klasse – die einfachen Bauern und Arbeiter – kommen dagegen selbst nie oder nur in Gesprächen der Beteiligten vor. Die unteren Stände treten hier nur als Bedienstete der Oberschicht auf, allerdings durchaus mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet, der nicht nur das parasitäre Leben der Oberschicht durchschaut, sondern zum Teil daraus auch seinen Nutzen zieht, ähnlich wie in Molières Komödien. Die im Untergrund brodelnde revolutionäre Stimmung jedoch nehmen weder Tschechov noch Gorki konkret auf, was wohl auch mit der zaristischen Zensur zu tun hat. So versteckt man die revolutionäre Botschaft in drastischen Schilderung großbürgerlicher Unfähigkeit und Apathie.

Gorkis Stück eignet sich hervorragend als „Kehraus“ eines ganzen Ensembles, bietet es doch über ein Dutzend sorgfältig konturierter Figuren. Wenn diese sich dann in einer Art Verschiebebahnhof in immer neuen szenischen Konstellationen treffen, ergibt sich ein kontinuierlicher Gesprächsfaden, der sich zwangsläufig irgendwann im Kreise dreht, da das bloße Reden allein zu keinen Veränderungen führt.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Professor Pawel Protassow, der als Chemiker an nicht näher beschriebenen Forschungen arbeitet, die der Menschheit den finalen Segen bringen sollen. In dieser Figur karikiert Gorki den unerschütterlichen Zukunftsgläubigen, der alles Heil von der technischen Entwicklung erhofft und darüber die Gegenwart und deren konkrete Probleme übersieht. Und die drohen Protassow ganz real in der Person des Malers Dmitirij Wagin, der Pawels Frau Jelena den Hof macht. Wagin ist bei Gorki im Gegensatz zu anderen Theaterstücken der Epoche nicht der rebellische Künstler mit sozialrevolutionären Utopien, sondern dient dramaturgisch lediglich als Protassows Rivale bei dessen Frau. Nicht einmal die Kunst ist ihm so wichtig wie seine erotische Eitelkeit, und Jelena ist – trotz anderslautender Aussagen – für ihn mehr eine gesellschaftliche Trophäe denn die geliebte Frau. Jelena ist für Wagins Werbung durchaus nicht unempfänglich, da sie sich von dem ausschließlich für seine Arbeit lebenden Pawel als Frau ignoriert fühlt. Sie denkt sogar schon über eine Trennung nach, und außer Pawel erkennt jeder aus der Umgebung der beiden die Gefahr.

Uwe Zerwer (Pawel Fjodorowitsch Protassow), Barbara Stollhans (Melanija, seine Schwester)

Uwe Zerwer (Pawel Fjodorowitsch Protassow), Barbara Stollhans (Melanija, seine Schwester)

Zu dieser Umgebung gehört Pawels Schwester Lisa, die durch gewaltsame Erlebnisse – ein vor-revolutionärer Aufstand? – traumatisiert ist und permanent unter krankhaften Angstzuständen leidet. Sie steht bei Gorki für das Volk, dass seit Generationen unter Gewalt und Unterdrückung leidet und darunter seelisch erkrankt ist. Lisas Zusammenbruch kann man als hellsichtige Metapher auf den Zusammenbruch der russischen Gesellschaft in der Revolution verstehen. Der Tierarzt Boris Tschepurnoj liebt Lisa trotz ihres fragilen psychischen Zustands und möchte sie nicht zuletzt durch die Ehe heilen. Doch Lisa kann ihren Tunnelblick nicht von den Schrecken der Vergangenheit lösen und weist Tschepurnoj ab. Auch Tschepurnoj lässt sich metaphorisch deuten: er ist der vernünftige (Tier-)Arzt, der gebildete und verantwortungsvolle Wissenschaftler, der die Gesellschaft heilen möchte, daran jedoch scheitert.

Zur  inneren Gruppe des Personaltableaus gehört noch Tschepurnojs Schwester Melanija, die sich einen reichen alten Mann geangelt und diesen überlebt hat. Jetzt packt sie wegen ihrer Berechnung der reine Ekel vor sich selbst, und sie findet in Pawel Protassow das Ziel ihrer Liebe und Anbetung. Die Tatsache, dass sich Jelena und Wagin immer näher kommen, passt ihr in ihre Pläne, und sie versucht sogar, Jelena den Mann in einer Art Geschäft unter Frauen abzukaufen. Doch leider nimmt der arbeitswütige Pawel Melanija nur als Mensch und nicht als Frau wahr und verletzt sie dabei unwillentlich bis ins Herz.

Den äußeren Ring um die zentrale Gruppe bilden die beiden Bediensteten Antonowna und Fima. in diesen stellt Gorki zwei archetypische Generationen dieses Standes dar. Erstere ist in Pawels Dienst gealtert und geht selbstlos für die Belange ihrer Herrschaft auf, während letztere ihre Arbeitgeber und deren Befindlichkeiten verachtet und in einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Aufsässigkeit nur ihr eigenes Ziel verfolgt: eine reiche Heirat. Der Schlosser Jegor geht Protassow bei dessen Versuchen technisch zur Hand, säuft und verprügelt seine Frau Awdotja. Als die alte Antonowna Protassow auffordert, dagegen vorzugehen, ist dem das sehr unangenehm, weil er sich mit Jegor nicht anlegen will. Bei der ersten aggressiven Reaktion Jegors macht er deswegen einen Rückzieher.

Damit in diesem hermetisch abgeriegelten und auf sich selbst zurückgeworfenen menschlichen Biotop überhaupt etwas geschieht, hat Gorki noch den Geschäftsmann Awdejewitsch eingeführt, der Protassow nicht nur dessen Haus abgekauft hat, sondern auch weitergehende geschäftliche Pläne mit ihm verfolgt. Da Protassow jedoch der Sinn für das Geschäftliche völlig abgeht und er die entsprechenden Angebote entrüstet ablehnt, ist absehbar, dass er mit seinen Forschungen irgendwann in den Bankrott steuern wird. So werden Awdejewitsch und sein nassforscher Sohn Mischa irgendwann das Kommando übernehmen und die alte Welt zum Teufel schicken. Gorki sieht zu diesem Zeitpunkt konkret weniger die (bolschewistische) Revolution sondern eher den kalten Kapitalismus angelsächsischer Prägung als Gefahr für das russische Volk.

Diana Wolf (Lisa, seine Schwester), Andreas Manz-Kozár (Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj)

Diana Wolf (Lisa, seine Schwester), Andreas Manz-Kozár (Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj)

Gorki stellt diese heterogene Gesellschaft in wenigen Anfangsszenen vor, um dann – nichts geschehen zu lassen. Es gibt in diesem Stück keine Handlung im üblichen Sinne, die sich aufgrund äußerer Ereignisse und unterschiedlicher Charaktere zwangsläufig zum großen Konflikt aufschaukelt. Die Handlungselemente entwickeln sich ausschließlich aus den Befindlichkeiten der einzelnen Personen und legen dabei die Leere und das ziellose Kreisen um sich selbst bloß. Da zwingt Wagin Pawel zum Entscheidungsgespräch über Jelena, nur um feststellen zu müssen, dass diese ihren Mann immer noch liebt, während Pawel in seiner naiven Borniertheit das Problem überhaupt nicht versteht. Da bricht für Melanija eine Welt zusammen, als der – wiederum menschlich naive – Protassow ihre Liebe zu ihm in vermeintlicher Großherzigkeit als läppische Kleinigkeit abtut. Und da verliert für Tschepurnoj das Leben jeglichen Sinn, als Lisa ihn endgültig abweist. Sein Freitod daraufhin hat unübersehbaren Symbolcharakter, da die einzige mit menschlichem Potenzial ausgestattete Figur aufgibt, als sie erkennt, dass dem Patient – dem russischen Volk – nicht zu helfen ist.

Regisseur Michael Helle hat das Stück in einer fortlaufenden Serie ineinander übergehender Szenen ohne Pause inszeniert, die den oben erwähnten Charakter eines leeren Redekreislaufs einnehmen. Dazu hat Achim Römer ein Bühnenbild eingerichtet, das die Bühne zu einem engen Laufkäfig verengt, in dem die Akteure eingesperrt und unlösbar miteinander verkeilt sind . Wären Gitter davor, könnte man Rilke mit „ihr Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe…“ zitieren. Die Enge und Erstarrung der Verhältnisse sind geradezu physisch spürbar. Wechselnde Beleuchtung der Szenerie schafft unterschiedliche Stimmungen vom kalten Hellgrau der Entblößung bis zum giftigen Grün der kurzen stehenden Bilder, die Situationen einfrieren und den Übergang zu einer anderen Szenerie ankündigen.

Die Darsteller verleihen dieser Atmosphäre des Stillstands, der irrealen Utopien und der Traumatisierung durch dichtes Spiel Gewicht. Neben Uwe Zwerwer, der einen überaus glaubwürdigen Protassow ohne klischeehafte Übertreibung gibt, ist vor allem Diana Wolf zu nennen, die als Lisa mit zunehmender Spieldauer von der Angst einer jungen Frau unaufhaltsam in den psychischen Zusammenbruch abgleitet und die zunehmenden Panikattacken mit hoher Konzentration und feiner mimischer wie körpersprachlicher Steuerung darstellt. Das Grauen der psychischen Erkrankungen teilt sich den Zuschauern geradezu physisch mit.

Diana Wolf (Lisa, seine Schwester), Karin Klein (Jelena Nikolajewna, seine Frau)

Diana Wolf (Lisa, seine Schwester), Karin Klein (Jelena Nikolajewna, seine Frau)

Karin Klein gibt eine selbstbewusste und doch leidende Jelena, die sich bei allen Zumutungen als Hausherrin jedoch stets unter Kontrolle halten muss. Andreas Vögler spielt den Wagin als selbstbezogenen Künstler, der beleidigt ist, dass ihm das Leben nicht die Erfolge schenkt, die ihm seiner Meinung nach zustehen, während Andreas Manz-Kozár den Tschepurnoj als einen Mann darstellt, der die Krankheit dieser Gesellschaft erkannt hat, sie zu heilen versucht, aber sich seine Macht- und Hilflosigkeit eingestehen muss. Er tritt den Awdejewitschs gegenüber genauso ablehnend auf wie er den Schlosser Jegor in seine Schranken zu verweisen oder seine eigene Schwester von der erotischen Verfolgung Protassows abzuhalten versucht. Am Ende bleibt ihm nur ein verzweifeltes Schluchzen über dem Wodkaglas.

Barbara Stollhans spielt die Melanija etwas unentschieden zwischen einer Karikatur und einer tatsächlich an der Liebe leidenden Frau. Man weiß bei ihr nie, ob man lachen oder weinen soll. Tobias Gondolf überzeugt als bulliger Schlosser Jegor mit hängenden Armen, dumpf brütendem Wodkakopf und wilden Ausbrüchen, während Simon Köslich den aalglatten Juniorchef der Firma Awdejewitsch gibt. Gerd K. Wölfle spielt dessen Vater routiniert als kühl kalkulierenden Geschäftsmann, und Liljana Elges hat einen kurzen Auftritt als Jegors verprügelte Frau. Margit Schulte-Tigges verkörpert das alte Kindermädchen Antonowna so echt, dass man sie anfangs nicht wiedererkennt, und Ronja Losert gibt ein rotzfreches, eiskalt intrigierendes Hausmädchen Fima. Bleibt noch Hubert Schlemmer zu erwähnen, der in der eher tragikomischen Nebenrolle des etwas verstörten Jakow Troschin mit nackten Füßen und hehren Formulierungen  auftritt.

Das Publikum würdigte nicht nur die darstellerische Leistung des gesamten Ensembles, sondern erkannte auch den besonderen psychischen Hintergrund dieser Abschiedspremiere im Kleinen Haus und spendete deshalb doppelt kräftigen Applaus.

Frank Raudszus

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