Delia Owens: „Der Gesang der Flusskrebse“

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Der Roman der US-Amerikanerin Delia Owens spielt in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in dem fiktiven Hafenstädtchen Barkley Cove an der Ostküste von North Carolina. Hier erstrecken sich weite Flussdeltas und eine flache, sumpfige Marschlandschaft, die Tieren und eigenbrötlerischen Menschen ideale Lebensbedingungen bietet.

Die Handlung ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt: in der „Jetztzeit“ des Jahres 1969 wird eines Morgens die Leiche eines jungen Mannes unterhalb eines einsamen Feuerwachturms in der Marsch aufgefunden. Alles deutet auf einen Unfall hin, doch der lokale Sheriff entdeckt ein paar Ungereimtheiten und kommt bald zu dem Schluss, dass Chase Andrews, so der Name des Opfers, durch eine offen stehende Luke hinunter gestoßen worden sein muss. Die Suche nach dem Täter führt bald zu ersten Ergebnissen.

Die andere Zeitebene beginnt im Jahr 1952, als die sechsjährige Kya Clark plötzlich ihre Mutter verliert. Die sechsköpfige Familie lebt in einer einsamen, halb verfallenen Hütte mitten in der Marsch vom Fischfang und der schmalen Veteranenrente des trunk- und spielsüchtigen Vaters, der Frau und Kinder im Alkoholrausch zu verprügeln pflegt. Eines Tages verlässt die Mutter ohne Vorankündigung die Familie, da sie die Gewalttätigkeiten ihres Mannes nicht mehr ertragen kann. Kyas Geschwister folgen ihr aus demselben Grund innerhalb weniger Wochen und lassen sie mit dem Vater allein. Dieser verschwindet oft für Tage und hinterlässt dem kleinen Mädchen weder Geld noch Lebensmittel. Kya hält sich mit den restlichen Nahrungsmitteln mühsam am Leben und ernährt sich ansonsten von dem, was die Natur einem kleinen Mädchen anbietet. Von Zeit zu Zeit erscheint der Vater kurz und lässt ein wenig Geld da, so dass Kya sich mit dem Boot des Vaters zum nächsten Ort aufmachen kann, um dort die nötigsten Dinge für das Überleben einzukaufen. Gutmütige Schwarze der Siedlung helfen ihr mit Kleidung und Lebensmitteln aus, sie liefert dafür Muscheln und Krebse. Als sie eingeschult werden soll, mobben die anderen Kinder sie wegen ihrer Kleidung und ihrer Herkunft als „Marschmädchen“ derart, dass sie nicht mehr zur Schule geht und sich vor den nachforschenden Polizisten in der Marsch versteckt, bis die Behörden sie als potentielles Schulkind aufgeben. Als ihr Vater eines Tages auf immer verschwindet, ist sie ganz auf sich gestellt und muss lernen, allein in der Natur zu überleben. Von dem Farbigen Jumping, abfällig so genannt wegen seiner hinkenden Gangart, erhält sie zumindest immer wieder Benzin für ihr Boot und etwas Lebensmittel, so dass sie nicht verhungert.

Jahre gehen so ins Land, und Kya leidet einerseits unter dem fehlenden Kontakt zu anderen Menschen, wird aber andererseits Teil der Natur und lernt dabei Tiere und Pflanzen der Marsch bis ins kleinste Detail kennen. Ihre natürliche zeichnerische Begabung, der sie sich gar nicht bewusst ist, lässt sie all die Pflanzen und Tiere bildnerisch in alten Heften und auf Papier aller Art festhalten.

Als sie durch Zufall einen Jungen kennenlernt, der in den Marschen angelt, freundet sie sich nach einer misstrauischen Anfangsphase mit ihm an. Da beide noch Kinder sind, entwickelt sich diese Freundschaft völlig natürlich und ohne erotische Interessen. Als Tate, so sein Name, ihre Zeichnungen entdeckt, ist er fasziniert und bringt ihr spontan Lesen und Schreiben bei, damit sie die Bilder beschriften kann. Da Kya diese beiden Kulturtechniken in erstaunlich kurzer Zeit erlernt, besorgt er ihr Bücher aller Art, vor allem biologische Fachbücher. Mangels anderer „Freizeitbeschäftigungen“ verschlingt Kya alle Bücher in kürzester Zeit und wird dabei nicht nur zu einer versierten Leserin sondern bildet sich im Selbststudium zur Biologin heran.

Diese Freundschaft übersteht auch die Pubertät, wobei Tate der Versuchung einer durchaus möglichen sexuellen Vertiefung der Beziehung aus Gründen des Anstands widersteht. Als er, selbst Sohn eines einfachen Krabbenfischers, dann die Zulassung zum College erhält, verspricht er Kya zwar, so bald wie möglich zurückzukommen und sie dann zu heiraten, setzt dies aber nicht um, da er glaubt, dass sie den Wechsel in die bürgerliche Welt nicht schaffen würde. Dennoch vergisst er sie nie..

Die zutiefst enttäuschte Kya, gerade sechzehn Jahre alt, verkriecht sich noch mehr in der Marsch und beschließt, die Kontakte nach außen noch weiter zu reduzieren, vor allem zu jungen Männern. Doch Chase Andrews, stadtbekannter Hallodri, hat von dem hübschen Mädchen in der Marsch gehört und sieht in ihr ein leichtes Opfer. Tatsächlich kommt es zu einer anfangs noch freundschaftlichen Beziehung, die Chase jedoch mit all seiner Cleverness und erotischen Erfahrung bald in eine sexuelle umwandeln kann. Kya sehnt sich nach einer festen Beziehung und nach Kommunikation und hört seine Hinweise auf eine Heirat mehr als gerne. Doch Chase denkt gar nicht daran, ist doch eine Beziehung zu einem „Marschmädchen“ für seine kleinbürgerlichen Eltern undenkbar. Und so erfährt Kya eines Tages von der Verlobung ihres Freundes mit einem anderen Mädchen aus der als Einwickelpapier für Fisch dienenden Zeitung des Ortes. Zerwürfnisse und Übergriffe folgen, Kya beendet die Beziehung, doch Chase betrachtet sie weiterhin als seinen Besitz und gelegentliche Geliebte.

Dies ist die Gemengelage, als der Sheriff den vermeintlichen Mord untersucht, und bald erfährt er von der Beziehung, mit der Chase selbst geprahlt hat. Verschiedene Indizien deuten auf Kya, und die Verhaftung – mitten auf dem Wasser von Boot zu Boot – lässt nicht lange auf sich warten Kya streitet zwar alles ab, sitzt aber im Gefängnis und wartet auf ihren Prozess.

Inzwischen hat Tate sein Studium beendet und kehrt aus wissenschaftlichen – und privaten! – Gründen als Forscher an seinen Heimatort zurück. Sein Versuch, wieder mit Kya Kontakt aufzunehmen, scheitert jedoch, weil er sie zu sehr enttäuscht hat. Selbst nach dem Ende der Beziehung zu Chase sucht Kya nicht seine Nähe.

Der Prozess im Jahr 1970 nimmt einen großen Teil dieses Hörbuchs ein, kann er doch im schlimmsten Fall mit einem Todesurteil enden. Die Indizienlage ist dürftig, und es gelingt Kyas Verteidiger, einige Zeugen der Anklage zu verunsichern. Andere beharren auf ihren für Kya bedenklichen Aussagen. So steht Kyas Schicksal auf Messers Schneide, als sich die Geschworenen, ausgewählt aus Bürgern des Ortes, zur Beratung zurückziehen. Den Moment der Urteilsverkündung gestaltet die Autorin äußerst spannend, ohne dabei zu „Thriller“-Methoden greifen zu müssen. Hier bewährt sich ihre Methode, die Charaktere und Ansichten der einzelnen Personen detailliert zu beschreiben, in besonderem Maße. Als dann schließlich das „nicht schuldig“ fällt, atmen die (meisten) Anwesenden und die Zuhörer erleichtert auf, haben letztere doch mit Kya seit ihrer Kindheit gelitten.

Nun folgt der Abgesang in Gestalt eines Happyends mit Tate, der Kya heiratet und mit ihr in die frisch renovierte Hütte zieht. Wie in einer Biographie – vielleicht ist ja dieser Roman auch eine verkappte – zieht das restliche Leben der beiden an den Zuhörern vorbei, bis Kya Anfang des neuen Jahrtausends plötzlich einem Herzschlag erliegt. Damit endet ein Leben, das nach einer schweren und unglücklichen Jugend schließlich doch noch in ein glückliches Dasein mündete. Doch am Schluss bietet die Autorin noch eine überraschende Pointe, die wir hier aber nicht verraten wollen.

Dieses (Hör-)Buch zeichnet sich vor allem durch die differenzierte und einfühlsame Sprache aus. Delia Owens beweist hier ihre Fähigkeit, menschliche Befindlichkeiten und seelische Probleme ohne jegliches Klischee oder falsches Pathos zu schildern und ihre Personen als vielfältige und oft auch in sich widersprüchliche Menschen zu beschreiben. Obwohl die Handlung im Grunde genommen keine für einen Kriminalfall übliche Spannungselemente enthält, gelingt es der Autorin, eben diese Spannung aus den Personen, ihren Gefühlen und Gedanken zu entwickeln und bei den Lesern bzw. Hörern ein starkes Identifikationsgefühl – natürlich für Kya – zu bewirken. Doch selbst so kritische Figuren wie Chase Andrews oder der Kleinstadt-Sheriff werden nicht nur als Abziehbilder etwa des Weiberhelden oder des ressentimentgeladenen Polizisten dargestellt, sondern zeigen auch andere Seiten.

Die Sprecherin Luise Helm liest das Hörbuch mit einer stillen Intensität, die Kyas Verlorenheit einerseits und ihre Stärke andererseits überzeugend zum Ausdruck bringt. Man unterbricht dieses Hörbuch nur sehr ungern und setzt das Zuhören bei der erstbesten Gelegenheit bis zum Schluss dankbar wieder fort.

Das Hörbuch ist im Verlag HörbuchHamburg erschienen, umfasst in der gekürzten Version 2 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 688 Minuten und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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