Nino Haratischwili: „Das achte Leben“

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Wer dieses Hörbuch bis zum Schluss gehört hat, darf zu Recht vermuten, dass dem Roman Jahrzehnte einer leidgeprüften Biographie der Autorin zugrunde liegen. Doch befragt man Wikipedia, erfährt man, dass Nino Haratischwili nicht nur zehn Jahre jünger als ihre Ich-Erzählerin ist, sondern darüber hinaus bereits als Jugendliche nach Berlin gekommen ist und dort auch studiert hat. Diese Tatsache widerspricht jedoch in keiner Weise der Vermutung, dass die Geschichte ihrer eigenen Familie Pate gestanden hat. Die Personenbeschreibungen sind in ihrer Dichte und emotionalen Nähe im Grunde genommen nur mit persönlicher Nähe zu ihren Vorbildern aus dem realen Leben zu erklären.

Der Roman beginn um 1900 in einem kleinen georgischen Ort, in dem ein Konditor ein traumhaftes Schokoladenrezept erfindet. Seinen eigenen Aussagen zufolge birgt diese Schokolade einen Fluch für jeden, der ihrem süchtig machenden Geschmack verfällt. Und wegen dieser symbolisch aufgeladenen Eigenschaft zieht sich die Schokolade als Metapher der Glückseligkeit und deren Schattenseite, des Unglücks, durch den ganzen Roman. Die Einen vergessen nach dem Genuss für kurze Zeit alles Leid ihres Lebens, die Anderen ereilt danach tatsächlich ein grausames Schicksal. Doch die Autorin erliegt nicht der Versuchung, diesen Fluch ernsthaft als Leitmotiv zu nutzen, sondern lässt ihn nur als literarische Metapher stehen.

Die Geschichte entwickelt sich anfangs in epischer Breite, beschreibt die Ehen des Schokoladenerfinders und die reiche Töchterschar, und lässt die eine – Anastasia, genannt Stasia – einen zaristischen Offizier heiraten, der sich dann aus Überlebensgründen den Bolschewiken anschließt und dort ein traumatisierendes Leben führt, das schließlich 1943 in den letzten Tagen von Stalingrad endet. Stasias wunderschöne Halbschwester heiratet nach dem Weltkrieg einen lokalen Parteiboss im Geheimdienst, muss jedoch bald dessen Chef, der sich – ohne Namensnennung – schnell als Berija entpuppt, erotisch zu Diensten sein, bis es zur Katastrophe kommt.

Stasias ehrgeiziger Sohn Kostja tritt begeistert in die roten Fußstapfen seines Vaters, geht zu Beginn des zweiten Weltkrieges zur Marine nach Leningrad, erlebt dort die Liebe seines Lebens und verliert sie dann durch den Hunger im belagerten Leningrad. Seine kleine Schwester Kitty verliebt sich in den Sohn von Stasias Freundin Sopio, die das bolschewistische System von Anfang an ablehnt und dafür mit ihrem Leben bezahlt. Als Kittys Freund zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in den georgischen Widerstand geht, foltert eine NKWD-Mitarbeiterin die hochschwangere Kitty deswegen und lässt ihr ungeborenes Kind im Mutterleib töten.

Als Kitty nach dem Krieg in einer zeitweiligen Geliebte ihres Bruders ihre Peinigerin wiedererkennt, kommt es zu einer Rachehandlung, die Kitty zwingt, das Land zu verlassen. Mit Hilfe des besten Freundes ihres Bruders, der über entsprechende Verbindungen verfügt, wird sie erst nach Prag und schließlich Anfang der 50er Jahre nach London ausgebürgert. Dort macht sie mit einigem Glück und Unterstützung einer einflussreichen Frau Karriere als Sängerin, kann aber weder ihre Heimat Georgien mit ihrer Familie noch ihren toten Sohn vergessen.

Derweil macht Kostja Karriere in Russland und organisiert seine georgische Familie wie ein Geheimdienstchef seine Behörde. Aus der Vernunftehe mit seiner Frau stammt Elene, die er aus überzogenem Ehrgeiz bereits als Kind nach Moskau in ein das Kind traumatisierendes Internat schickt und die schließlich aus Protest in ein prekäres Leben mit zwei Töchtern unehelicher Zufallsbekanntschaften abgleitet. Die ältere und schönere, von Großvater Kostja verehrte und verwöhnte Tochter wird Schauspielerin, heiratet den falschen Mann, wird Mutter, verfällt dem Alkohol und stirbt bei einem Unfall mit suizidalem Beigeschmack. Die jüngere Schwester ist die am Ende des Romans – 2007 – etwa 35 Jahre alte Ich-Erzählerin.

Nach den Jahrzehnten des bolschewistischen Terrors und anschließend der bleiernen Leere in der Zeit von Cruschtschow bis Breschnew beginnt Ende der 80er Jahre der fast tumultuöse Umbruch unter Gorbatschow und Jelzin, der vor allem den staatstreuen Kostja vollständig aus der Bahn wirft. Von der neuen Generation von Machthabern aus dem Amt gedrängt, verbringt er seine letzten Jahre fluchend und grummelnd, unrasiert und im Bademantel vor dem Fernseher.

Als einzige Konstante wandert Stasia durch das Jahrhundert, lebt ihr Leben und lässt sich selbst von ihrem Sohn nichts sagen. Schwer leidet sie unter den Folgen der konsequenten und empathielosen Entscheidungen ihres Sohnes, die einige Mitglieder der weit verzweigten Familie das Leben kosten. Entweder meint er, das Beste für die Betroffenen zu tun, ohne diese jedoch zu fragen, oder er führt lange geplante Rachefeldzüge aus. Stasia bleibt sozusagen das Rückgrat der Geschichte und verpasst das Ende des Jahrhunderts nur um ein Jahr.

Nach dem Tod ihrer Schwester und anderen traumatischen Erlebnissen steht die Ich-Erzählerin derart unter Schock, dass sie eine kleine Chance nutzt, um nach Europa zu kommen. Doch dieser Entschluss ist kein Aufbruch zu neuen sondern nur eine Flucht von alten Ufern. In Berlin vegetiert die hoch begabte junge Frau trotz einer guten akademischen Arbeitsstelle intellektuell und seelisch dahin und droht in ein depressives Loch ungeahnter Tiefe zu fallen, als plötzlich die zwölfjährige Tochter ihrer Schwester auftaucht. Von diesem Augenblick ändert sich alles, wenn auch anfangs gegen ihren Willen. Und dieses scheinbar unfertige Mädchen schafft es, dass die Ich-Erzählerin ihrer Familiengeschichte nachgeht und schließlich für ihre Nichte ein Buch schreibt, dass die Hörer des Hörbuchs über viele Stunden gefangen nimmt. Natürlich verbindet die Autorin nicht explizit die Recherche ihrer Protagonistin mit ihrem eigenen Buch, doch die Parallele ist mehr als deutlich.

Das Buch lebt von der epischen Breite der geschilderten Ereignisse einerseits und von der dichten und glaubwürdigen Beschreibung der einzelnen Charaktere andererseits. Neben den erwähnten Personen treten noch weitere in Nebenrollen auf, wobei jedoch auch diese Nebenrollen lebensdichte Charaktere mit glaubwürdigen Eigenarten und ausgeprägten Schicksalen sind. Selbst ausgesprochen negative Figuren, die dem Fortgang der Handlung dienen, sind in ihrer Gewalttätigkeit eher Opfer der Zeit als genuine Täter.

Die Sprecherin Julia Nachtmann verleiht den wechselnden Personen – vom kleinen Mädchen zur alten Frau, vom jugendlichen Träumer zum herrischen Vater – jeweils ganz eigene Stimmen, deren Intonation dem Hörbuch fast Hörspielcharakter verleiht.

Wer dieses Hörbuch startet, muss viel Zeit mitbringen und am besten lange Autofahrten einplanen. Aber dann lohnt sich dieses Hörerlebnis wirklich.

Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch-Hamburg erschienen, umfasst 740 Spuren mit einer Gesamtlaufzeit von über 43 (!) Stunden und kostet 39,95 Euro.

Frank Raudszus

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