Marc Degens: „Selfie ohne Selbst“

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Literaten bauten in ihren Fiktionen von je her gerne Phantasiewelten auf, die nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf ihr eigenes Leben ermöglichten. In dem noch jungen Genre der Autofiktion ändert sich das jedoch radikal, da Schriftsteller in entsprechenden Werken ihr eigenes Leben verarbeiten, oft nur dünn mit fiktionalen Elementen kaschiert. Die konsequente Weiterentwicklung der Autofiktion ist das Tagebuch, das die eigenen Erlebnisse, Gedanken und Einschätzungen ohne jegliche Fremdfärbung widerspiegelt. Man kann dies als eine Variante des Narzissmus betrachten, da das Ich des Autors im Mittelpunkt steht, muss es aber nicht.

In dem vorliegenden Buch geht es um solche Tagebücher, und es ist selbst in gewissem Sinne auch eins. Im Mittelpunkt steht der Berliner Intellektuelle Michael Rutschky, promovierter Soziologe, Essayist und Schriftsteller. Rutschky ist eine historische Person und wird in Marc Degens Buch als eine solche präsentiert, ohne jegliche Fiktion.

Rutschky, Jahrgang 1943 und 2018 verstorben, hatte nach diversen Tätigkeiten als Redakteur für intellektuelle Zeitschriften in Berlin als freischaffender Schriftsteller eine Gruppe junger Autoren um sich versammelt, ein wenig wie Stefan George in der Zwischenkriegszeit, und genoss deren Bewunderung seiner intellektuellen Strahlkraft, die jedoch offensichtlich nicht weit über Kreuzberg hinaus reichte. Seine wichtigsten Werke, zumindest im Kontext des vorliegenden Buches, bestanden in Tagebüchern der neunziger Jahre und der Zeit danach.

Marc Degens, den bei seinem Mentor Rutschky schon früher die selbstherrliche Art und der Neid auf alle Erfolgreicheren – hier zum Beispiel Reinhard Goetz – gestört hatten, wird mit der Bitte konfrontiert, bei einer Veranstaltung des Berenberg-Verlags „in memoriam Michael Rutschky“ aus diesen Tagebüchern vorzulesen. Bei der Vornereitung der Lesung wird er mit abfälligen Äußerungen Rutschkys über sich – Degens – und andere Mitglieder des „Rutschky-Kreises“ konfrontiert. Die Enttäuschung über diese persönliche Illoyalität, wenn nicht Verrät, hat ihn letztlich zu diesem Buch motiviert. Degens lässt noch einmal verschiedene Phasen seiner Zeit mit Rutschky Revue passieren und vermischt diese mit anderen Erlebnissen in der Berliner Intellektuellen-Szene, die mal mehr, mal weniger mit Rutschky direkt zu tun hatte. In all diesen Szenen spielt sein ehemaliger Mentor jedoch eine Rolle. Stück für Stück entblättert Degens die Figur Rutschky, jedoch nicht systematisch und strukturiert wie in einem Essay, sondern assoziativ und emotional wie in einem Tagebuch. Ob er dabei bewusst auf jegliche strukturelle Form oder gar einen Stil verzichtet, um mit dem Tagebuchstil Authentizität und persönliche Betroffenheit zu zeigen, sei dahingestellt. Einerseits zeigt er an verschiedenen Stellen deutlich seine menschliche Enttäuschung über Rutschky, andererseits versucht er bewusst, den Eindruck des Nachtretens gegen einen Toten zu vermeiden. Wenn er ähnliche Invektiven Rutschkys gegen andere Freunde und Anhänger erwähnt, verzichtet er bewusst auf die Inhalte.

Doch diese Unentschiedenheit zwischen Abrechnung und Großmut führt ihn in eine Dauerschleife, in der er zwar immer neue Episoden mit und ohne Rutschky schildert, aber sich letztlich im Kreise dreht. Dieser Kreis dreht sich um ihn, Degens, durchaus vergleichbar mit Rutschkys narzisstischer Egomanie, wenn auch nicht so aggressiv. Degens fühlt sich vom Leben – in Gestalt von Rutschky – verkannt und leidet darunter, doch ihm fehlt der Kampfgeist im Guten wie im Schlechten, dagegen konsequent vorzugehen. Letztlich ist dieses Buch eine einzige Klage über den eigenen ausbleibenden Erfolg, und Rutschky ist eine durchaus legitime Adresse für diese Klage. Aber als Verstorbener kann er nicht mehr antworten, und Degens Klage verhallt daher im leeren literarischen Raum. Denn eins ist klar: die Welt dreht sich weiter, und keiner der Freunde und Leidensgenossen Degens wird dessen „Fass aufmachen“, wahrscheinlich noch nicht einmal das eigene.

Man fragt sich am Ende dieses Buches nicht nur wegen dessen Strukturlosigkeit, was dieses Buch bezweckt, und diese Frage bleibt auch nach dem Fall des Vorhangs der letzten Seite offen.

Das Buch ist im Berenberg-Verlag erschienen, umfasst 83 Seiten und kostet 18 Euro.

Frank Raudszus

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