Qualverwandtschaften

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Eigenen Aussagen zufolge ist die Regisseurin Heike M. Goetze skeptisch gegenüber Theaterfassungen klassischer Romane. Dennoch hat sie sich für die Inszenierung von Goethes epischem Spätwerk „Die Wahlverwandtschaften“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt entschlossen, allerdings nur unter der Bedingung radikaler szenischer Änderungen.

Es beginnt mit einem Novum: die Zuschauer erhalten Kopfhörer, allerdings nicht wegen der besseren Verständlichkeit – ein angenehmer Nebeneffekt! -, sondern aus Verfremdungsgründen. Der klassisch-anspruchsvolle Sprachduktus des Originals wird durch Nebengeräusche und Sprachechos konterkariert und damit auf die Vermittlung des Textinhalts durch externe Medien – Literatur, Theater – verwiesen.

Ensemble

Die Handlung ist kurz erzählt: das wohlsituierte Ehepaar Eduard und Charlotte führt auf einem Landgut ein so behagliches wie ereignisloses Leben. Als Eduard den entlassenen Hauptmann Otto aufnimmt, besteht Charlotte darauf, auch ihrer mittellose Nichte Ottilie ein neues Zuhause zu bieten, nicht ohne die Befürchtung bezüglich der häuslichen Nähe zweier alleinstehender jüngerer Leute verschiedenen Geschlechts in ihrem Hause. Doch nicht diese beiden finden sich, sondern Charlotte und Otto einerseits sowie Eduard und Ottilie andererseits, was Goethe durch jeweils ähnliche Charaktermerkmale vorbereitet hat. Das Ganze endet tragisch mit drei Todesfällen, wie es sich für eine Ehebruchsgeschichte aus der Feder eines JWvG gehört.

Heike Goetze hat in ihrer weiteren Funktion als Bühnen- und Kostümverantwortliche ihre Protagonisten deutlich gekennzeichnet. Eduard (Daniel Scholz) und Charlotte (Marie Bonnet) tragen hautenge Gesichtsmasken, die ihren Gesichtern eine gewisse Starrheit verleihen. Damit ist offensichtlich die großbürgerliche Fassade mit verinnerlichten Konventionen und keinerlei – schädlichen – Leidenschaften gemeint. Otto (Mathias Znidarec) tritt in realer Nacktheit als Metapher seiner gesellschaftlichen Entblößung auf und legt sich nach der ersten Szene in eine mit echtem Wasser gefüllte Badewanne, um dort den ebenfalls metaphorischen sozialen Schmutz zu entfernen. Auch die beiden Frauen – vor allem Charlotte – werden dieses Wasser kräftig für ebenfalls metaphorische Reinigungsorgien nutzen. Die – außer Badewanne und Stuhl – leere Vorderbühne ist durch eine Glaswand von dem hinteren Teil abgetrennt, in dem ein paar (Papp-)Felsen die „äußere Welt“ darstellen, mit der die vier Protagonisten nur selten in Berührung kommen. Sie suchen diesen Fluchtpunkt des Öfteren einzeln oder in wechselnden Konstellationen auf, kehren aber jedes Mal wie zwanghaft in ihre gemeinsame Enklave zurück. In gewisser Weise erleben sie dort die „Hölle der Anderen“ frei nach Sartre, auch oder gerade weil sie mit diesen Anderen enge Beziehungen verbinden.

Marie Bonnet und Daniel Scholz

Die durchaus komplexe Handlung, die Goethe entwickelt, um die Befindlichkeiten der einzelnen Figuren zu begründen, spielt in dieser Inszenierung eine geringere Rolle. Die Befindlichkeiten selbst stehen im Vordergrund, wobei die erotischen Beziehungen in geradezu expressionistisch-grotesken Szenen nur angedeutet werden. Wer das Original nicht kennt, kann daher die psychologische Entwicklung nicht anhand der Handlung nachvollziehen.

Zu Beginn lässt Goetze – man kann uns kein „z“ für ein „h“ vormachen – Matthias Znidarec alias Otto den Beginn des Romans als Erzähler vortragen, wobei Daniel Scholz und Marie Bonnet die Dialogpartien ihrer Figuren übernehmen. Dabei ironisieren die Darsteller den Originaltext jedoch dahingehend, dass sie ihn in erhöhtem Tempo klassisch-akademisch intonieren, ohne an irgendeiner Stelle die unmittelbaren Emotionen durchschimmern lassen. Die Absicht ist eindeutig: Goethe schreibt aus der Distanz eines vermeintlich abgeklärten älteren Herren, der die unmittelbaren menschlichen Ängste, Kränkungen und Sehnsüchte nur als geistige Gebilde und nicht als eruptive Emotionen betrachtet.

Diese Emotionen lässt dann Goetze vor allem ihre weiblichen Figuren zum Ausdruck bringen. So wandelt sich Charlotte zur verbitterten, eiskalten „bitch“, die in Ottilie bald ihre Konkurrentin sieht, und bekämpft Eduards außereheliches Verhältnis mit Sottisen und Direktheiten aller Art in heutiger Sprache. Ottilie kann sich dagegen nur durch emotionale Ausbrüche physischer Art wehren, und beide Frauen tanzen auch schon mal einen wilden Techno-Tanz, um ihre Emotionen herauszulassen. Die beiden Männer dagegen reagieren auf stereotype, fast hilflose Art, und vor allem Eduard verliert sich in Wiederholungen derselben Satzfolgen.

Dieses Spiel der gekränkten Egos und Eitelkeiten und der in sich zusammenbrechenden Selbstgewissheit dauert so lange, bis die Dinge im Original offen zutage treten, zum Beispiel durch Charlottes Schwangerschaft. Jetzt muss jeder Farbe bekennen: Eduard und Charlotte nehmen die Masken ab, das Publikum kann auf die Kopfhörer verzichten, da nun „Klartext“ geredet wird, und Mathias Znidarec steigt aus der Badewanne, um den Rest des Stücks bunt gewandet zu bestehen.

Daniel Scholz, Marie Bonnet und Edda Wiersch

Doch das Bühnengeschehen nähert sich deswegen nicht dem Original im Sinne einer konsistenten Handlung an, sondern bleibt in dem expressionistischen Befindlichkeitsmodus. Kindstod und dessen Folgen werden anhand einer Puppe nur angedeutet, und auch der Tod Eduards und Ottilie(n)s wird ausgespart. Anstelle dessen präsentiert das gesamte Ensemble die letzten Szenen im Stil eines griechischen Chors, der die Zweck- und Ausweglosigkeit menschlicher Beziehungen und Tragödien in enigmatischen Kürzeln beschwört.

Heike Goetze langweilt das Publikum mit dieser Inszenierung dank der dynamischen und überraschenden Szenenwechsel keinen Augenblick lang, wenn auch mancher Gefühlsausbruch und manche szenische Idee etwas zu sehr ausgewalzt werden. Auch hier hat man das Gefühl, dass man sich von so manchem Regieeinfall wegen der eigenen Begeisterung gar nicht trennen kann und ihn deswegen gleich mehrere Male auftischt, bis ihn auch der letzte Zuschauer verstanden hat. Das hält sich jedoch glücklicherweise in Grenzen, und die emotionalen Kontraste ohne jede klassische Überhöhung kommen gut zum Ausdruck.

Die Darsteller tragen dieses Konzept durch ihren engagierten und kompromisslosen Einsatz, allen voran Marie Bonnet als wahrhaft furiose Charlotte. Diese Inszenierung ist ein so origineller wie glaubwürdiger Beitrag der Regie zu einem aufgeklärten Feminismus, indem er die Frauenrollen hervorhebt, ohne deswegen diese zu verkannten Heiligen zu stilisieren. Edda Wiersch schließt sich den emotionalen Ausbrüchen ihrer „Widersacherin“ an, wenn auch mit den geringeren Mitteln ihrer Figur. Dagegen müssen die beiden Männer in dieser Inszenierung die Rolle der düpierten, streckenweise sogar hilflosen männlichen Figuren übernehmen, wobei Mathias Znidarec noch einen Großteil der Aufführung in dem hoffentlich warmen Badewasser absolvieren muss.

Wir empfehlen jedoch allen an dieser Inszenierung Interessierten, sich den Handlungsablauf vorher anzueignen, um die „Szenen einer Ehe“ auf der Bühne besser zu verstehen.

Frank Raudszus

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