Die Wiederentdeckung einer Stilistin

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Das späte 19. und das 20. Jahrhundert waren künstlerisch von großen Umbrüchen geprägt, die über Impressionismus und Expressionismus schließlich in die abstrakte Malerei führten. Die wichtigsten Vertreter jeder dieser Richtungen haben die jeweiligen Diskussionen derart dominiert, dass viele eher konventionell arbeitende Künstler beiderlei Geschlechts darüber in Vergessenheit gerieten, wenn sie nicht gerade im Umfeld der Mächtigen agierten.

Selbstbildnis mit Hut, 1904

Eine dieser herkömmlichen Künstlerinnen war Ottilie W. Roederstein, die von 1859 bis 1938 lebte. Die Deutsch-Schweizerin studierte in Paris – noch in einer privaten Akademie, weil Frauen die staatlichen Kunstschulen verwehrt waren -, Zürich und Berlin und setzte sich durch ihr hohes künstlerisches Können bald durch. Ihre konventionelle Herangehensweise hatte wohl auch mit ihrem Geschlecht zu tun, denn im späten 19. Jahrhundert konnten sich freie Künstlerinnen gegen ihre männlichen Kollegen am Kunstmarkt nicht durchsetzen. Was lag da näher als die Auftragskunst in Form von Portraits, denn Honoratioren beiderlei Geschlechts ließen (und lassen) sich am liebsten in natürlicher Form abbilden. Das tat Ottilie Roederstein denn auch vor allem in Frankfurt, wo sie ab 1891 lebte. Vielleicht waren ihre Portraits etwas geschönt gegenüber der Realität, aber auf keinen Fall abstrakt wie bei vielen Portraits des 20. Jahrhunderts.

Der Maler Jakob Nussbaum, 1909

Ottilie Roederstein zeigt in ihren Portraits nicht nur ein Höchstmaß an gestalterischer Tiefe und menschlicher Ausdruckskraft, sondern auch einen erstaunliche Variabilität der Malweise. Geht man durch die verschiedenen Räume, so meint man, Werke verschiedener Maler aus weit auseinander liegenden Jahrhunderten zu sehen.

Da sind zum Einen die durchaus zeitnahen Portraits örtlicher Honoratioren, in denen sie mit Licht und Schatten und warmen Farben arbeitet und damit den Gesichtern der Portraitierten menschliche Ausdruckskraft verleiht. Besonders die den Betrachter direkt anblickenden Augen fallen dabei durch ihre Lebendigkeit auf. Manche Portraits erinnern in ihrem Spiel mit Licht und Schatten fast an Rembrandt. Dann trifft man in einem anderen Raum Portraits im italienischen Renaissance-Stil. Distanzierter Blick des Modells in die Ferne, stolze Kopfhaltung, bisweilen altertümliche Kopfbedeckungen und Landschaftsszenen im Hintergrund.

In ihren späteren Jahren spielte Ottilie Roederstein wiederum mit modernen Stilelementen. Flächige Portraits mit sparsamen Lichteffekten und eher zurückhaltender Farbgebung, mit denen sie wohl die zunehmende Distanz des modernen Menschen zu seiner Umgebung zum Ausdruck bringen wollte. Die wenigen Landschaftsbilder sind mit farblich markanten Konturen versehen, die ihnen ebenfalls eine gewisse Entrücktheit verleihen.

Die Verlobten, 1897

Die Stillleben sind in dieser Ausstellung ein besonders gutes Beispiel für die Variabilität ihres Malstils und für die Lust an dem malerischen Experiment. Auf einem Bild glitzern die metallenen Gegenstände einer Tischanordnung förmlich mit ihren weiß aufgetragenen Lichtreflektionen, daneben hängt ein Bild mit streng voneinander getrennten roten und orangen Farbflächen, das auf eine andere Art ebenfalls den Blick des Betrachters fesselt. Dann wieder verschwinden die Tassen eines Kaffeeservices förmlich im weichen Schimmer eines impressionistischen Ansatzes.

Die abstrakte Moderne des 20. Jahrhunderts hat Ottilie W. Roederstein jedoch nicht mehr mitgemacht, und auch dem verfremdenden Expressionismus der zwanziger Jahre konnte sie offensichtlich nichts abgewinnen. Das war wohl auch der Grund für ihr langsames Verschwinden aus der Kunstöffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das Verdienst – und die Aufgabe! – des Städelmuseums, solche Juwele der Vergangenheit wieder der Vergessenheit zu entreißen und dem heutigen Publikum zu präsentieren.

Die Ausstellung ist noch bis zum 16. Oktober 2022 geöffnet. Näheres ist der Webseite des Städelmuseums zu entnehmen.

Frank Raudszus

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