Markus Gabriel: „Der Mensch als Tier“

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Der Untertitel dieses Buches, „Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen“, markiert sowohl die Sonderstellung der Spezies „homo sapiens“ als auch ihren bedrohlichen Charakter für eben diese Natur und folgerichtig die Notwendigkeit einer neuen Ethik.

Das Buch besteht aus drei Teilen, die in gut philosophischer Manier logisch aufeinander aufbauen. Im ersten Teil tastet sich Gabriel an die Definition des Menschen heran, im zweiten hebt er die mittlerweile längst in die Ratgeberseiten der Zeitungen diffundierte Frage nach dem „Sinn des Lebens“ zurück auf die philosophische Ebene, um im dritten eine neue „Ethik des Nichtwissens“ zu entwickeln.

Mit Darwins Evolutionstheorie verlor der Mensch seine von außen – durch die göttliche Instanz – gesetzte Sonderstellung und sank zum Tier mit speziellen Eigenschaften herab. Mit dem Verlust der Religion – zumindest in Naturwissenschaft und Philosophie – war der Mensch auf eine Selbstdefinition zurückgeworfen, die bei genauem Durchdenken zu logischen Widersprüchen führen musste, da der Mensch keine neutrale oder gar erhöhte Außenposition wie der Autor eines Buches oder eben wie der (christliche) Gott einnehmen kann. Wenn auch mit der Fähigkeit zur Reflexion ausgestattet, kann er sich nicht selbst auf die Schultern steigen und von oben eine klare Eigenbeschreibung liefern.

Gabriel sieht den Menschen als irrationales da – evolutionär – animalisches Wesen, das jedoch seine eigene Irrationalität auf rationalem Wege erkennt. Und so definiert sich der Mensch als „Tier + X“, wobei das „X“ näher einzugrenzen wäre. Bereits hier sieht Gabriel große Probleme, da wir Menschen heute selbst den Begriff des Tieres nicht genau definieren können, von dessen Gattungen wir nur einen Bruchteil wirklich kennen. Die Mächtigkeit tierischer (und pflanzlicher) Intelligenz führt er am Beispiel der „sozialen“ Vernetzungen verschiedener Tier- und Pflanzenarten an. In diesem Zusammenhang streift er auch den Identitätsbegriff, den er zum Beispiel angesichts des periodischen Zellaustauschs in Frage stellt. Den durch die Evolutionstheorie bedingten Animalismus des Menschen im Sinne eines „Mechanismus“ betrachtet er aus guten Gründen für eine Selbstdefinition als logisch unhaltbar.

In diesem Zusammenhang diskutiert Gabriel auch in guter wissenschaftlicher Konsequenz detailliert die unterschiedlichen philosophischen Sichtweisen auf Welt und Menschsein, als da sind der reduzierte Mechanismus des Animalischen, der Vitalismus als die ganzheitliche Lehre der Lebewesen, wobei er die bewusst gestaltete Ganzheitlichkeit explizit von der nur summarischen Gesamtheit (der Einzelelemente) abgrenzt, sowie der neuzeitliche Nihilismus der Naturwissenschaften, der allein schon angesichts des Größenunterschieds von Kosmos und Erde auf die Bedeutungslosigkeit des irdischen Lebens schließt. Schließlich landet er beim anthropologischen Dualismus, der den Menschen als – implizit wertloses – Tier plus höherer Eigenschaften definiert.

Die Wirklichkeit ist für Gabriel keine bloße, vom Menschen unabhängige Abstraktion der individuellen Subjektivität, sondern sie wird überhaupt erst von dem denkenden Menschen konstruiert. Damit verweist Gabriel auch auf sein hier schon besprochenes Buch „Fiktionen„. Diese Konstruktion beruht nach der Aufklärung nicht mehr auf Mythen, sondern auf Beobachtung und logischen Schlussfolgerungen, was wiederum zur rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften geführt hat. Der daraus entstandene Szientismus pflegt laut Gabriel einen – ähnlich der Religion – irrationalen Glauben an die ultimative (Natur-)Wissenschaft mit vollständiger (Er-)Lösungskompetenz und erfordert selbst die Initiierung einer „neuen Aufklärung“. Diese stellt Gabriel auf drei Grundpfeiler: den moralischen Realismus, der die Existenz objektiv richtiger Lebensregeln allein aufgrund unseres Menschseins voraussetzt; den Universalismus, der diese Lebensregeln für alle Menschen verbindlich erklärt; und schließlich den zwar vom Menschen definierten, aber für alle Lebewesen geltenden Humanismus.

Mit dem Wegfall einer Fremddefinition des Menschen – etwa durch die Religion – steht auch die alte Sinnfrage neu zur Beantwortung an. Dazu gilt es erst einmal, das Niveau der leicht verdaulichen Ratgeberliteratur zu ignorieren und die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ernsthaft und aus konsistenter philosophischer Sicht zu erörtern. Nach einem Ausflug zu Hegels Frage nach der „Idee des Lebens“ kommt Gabriel zu einer ersten Unterscheidung. Demnach steht jedem Menschen die Definition seines subjektiven Sinns „im“ Leben zu, solange dieser individuelle Sinn, etwa in Gestalt von Musik oder Kunst, die freie Entfaltung seiner Umwelt nicht einschränkt. Doch ein Sinn „des“ Lebens im allgemeinen Sinne kann in einer Gemeinschaft selbstdefinierter Lebewesen, hier der Mensch, laut Gabriel nicht „sein“, sondern nur durch diese „verliehen“ werden. Dabei kann man das Wort durchaus im Sinne von „leihen“, also ohne Garantie der unbefristeten Gültigkeit verstehen. Wie das Falsifikationskonzept der Naturwissenschaften stets von temporären Hypothesen statt von gültigen Wahrheiten ausgeht, ist auch dieser „Sinn des Lebens“ als ein momentaner zu verstehen, da er nicht von außen vorgegeben wird.

Die Suche nach diesem Sinn führt zum Begriff der Autonomie des Menschen. Gabriel spitzt diese zu einer „radikalen Autonomie“ zu, die sich grundsätzlich aus und an der Autonomie der anderen definiert. Autonomie bedeutet also nicht totale individuelle Freizügigkeit, sondern versteht sich als ein dichtes Netzwerk vieler, sich gegenseitig bedingender Autonomien. In diesem Sinne verweigert Gabriel auch die Einordnung der (menschlichen) Gesellschaft als ein Teil der Natur und definiert sie eindeutig als Konstrukt der radikalen Autonomie. Mit diesen Überlegungen gelangt er zum Begriff der „existenziellen Selbstbestimmung“ des Menschen, die sich aus der Doppelfrage „wer bin ich, und wer will ich sein?“ speist und die letztlich zu einer existenziellen Transzendenz mit dem Ziel der Selbstüberhöhung im Sinn einer Verbesserung führt. Man hört hier das Echo von Nietzsches „Übermenschen“ durch die Zeilen hallen. Mit diesem geistigen Konstrukt weist Gabriel auch den inhärenten Nihilismus der Naturwissenschaften zurück, der die Epoche des homo sapiens an kosmischen Maßstäben misst und damit zur Bedeutungslosigkeit marginalisiert.

Im dritten Teil entwirft Gabriel dann auf der Basis der Sinnsuche des zweiten Teils eine Ethik, die auf dem Nichtwissen aufbaut. Je mehr wir – vor allem naturwissenschaftlich – wissen, desto größer wird auch der Bereich des Nichtwissens, der sich mit jedem neuen Wissensbereich zwangsläufig erweitert. Daher müsse eine Ethik der erkenntnistheoretischen Bescheidenheit entwickelt werden, die den heutigen Machbarkeitswahn ersetzt.

Die Natur „an sich“ ist, wie sie ist und bietet dem zu erkennen versuchenden Menschen keine Anleitung. Die Suche des Menschen nach dem „für sich“ der Natur, das heißt: ihrem Zweck, muss scheitern, da der Mensch auf keine externe, sprich: höhere Erkenntnisquelle zurückgreifen kann. Der (menschliche) Geist dagegen ist „für sich“, weil er unlösbarer Teil des menschlichen Wesens ist. Das von der Philosophie angestrebte „An-und-für-sich“-Sein wäre eine Synthese von Natur und Geist, die jedoch von dem selbst das Objekt der Erkenntnis seienden Geist nicht zu leisten ist. Es bleibt laut Gabriel nur die Erkenntnis der begrenzten Erkenntnis. Die Einsicht in unser Nichtwissen muss also noch dahingehend verschärft werden, dass wir noch nicht einmal wissen, was wir nicht wissen.

Aus der Erfahrung einer überkomplexen, weil den (menschlichen) Geist als Teil enthaltenden Natur sowie aus der Forderung der „radikalen Alterität“, das Recht des unbekannten(!) Anderen zu achten, kommt Gabriel schließlich auf das Gewissen zu sprechen. Dazu zitiert er Sokrates, der das Gewissen („daimonion“) im weitesten Sinne aus dem Gegensatz von „doxa“ (Meinung) und „episteme“ (Wissen) definiert hat. Aus diesem Gegensatz ergibt sich eine Ethik der transzendenten Normativität, die den Erkenntnisraum des menschlichen Geistes überwölbt. Das (menschliche) Wissen ist für Gabriel zwangsläufig eine Untermenge der (allumfassenden) Wirklichkeit, wie immer diese aussehen mag. Aus dieser logisch konstitutiven Begrenztheit des Wissens kommt Gabriel schließlich zu der Notwendigkeit einer neuen epistemischen Bescheidenheit. Wie diese im Einzelnen auszusehen hat, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Buches, doch sie muss auf jeden Fall die radikale Alterität und damit die Rechte der Anderen (Lebewesen) berücksichtigen.

Was bei diesem Buch neben dem intellektuellen Niveau besonders auffällt, ist die persönliche Teilhabe des Autors. Von vornherein verzichtet er auf die Pose des außenstehenden Beobachters und bringt sich stattdessen als Mensch ein. Das schlägt sich in vielen wertenden Bemerkungen im Text nieder, sei es zur Tierhaltung oder zum Klimawandel, aber auch in einer persönlichen Wichtung seiner Ausführungen zur Ethik im dritten Teil. Hier äußert sich nicht (nur) ein Philosoph zu erkenntnistheoretischen Fragen, sondern hier spricht ein Mensch über die selbstgemachten Probleme der Welt.

Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 349 Seiten und kostet 22,99 Euro.

Frank Raudszus

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