Jean-Pierre Wils: „Warum wir Trost brauchen“

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Das menschliche Bedürfnis des Trostes ist im Laufe der Jahrhunderte schon sehr oft Gegenstand mehr oder minder literarischer Texte gewesen, und die Vertreter der verschiedenen Religionen dürften dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Daher weckt der Titel dieses Buches im ersten Augenblick ein wenig Verwunderung, zumal es von einem renommierten zeitgenössischen Philosophen stammt. Jean-Pierre Wils hat erst kürzlich mit seinem Buch „Der große Riss“ einen wichtigen Betrag zum aktuellen Weltverständnis geliefert, und in gewissem Sinne kann man das vorliegende Buch als eine Art Epilog dazu betrachten.

Wils ist sich der Banalisierung des Trost-Begriffes im westlichen Kulturkreis vor allem durch psychologische Betreuungsliteratur und Lebensberatung bewusst, vermeidet daher von Anfang an deren typischen Tenor und bedient sich einer intellektuell strengen philosophischen Diktion.

An den Anfang stellt er eine Analyse trostbedürftiger Situationen. Persönlicher Schmerz jeglicher Art steht dabei im Vordergrund, und der physische Schmerz im Kontext einer Krankheit oder Verletzung – aktuell auch wieder einer Verwundung! – spielt dabei eine paradigmatische Rolle. Denn dieser lässt sich in seinen Auswirkungen leicht zum psychischen Schmerz erweitern. Der Schmerz und sein allgemeineres Synonym „Leiden“ werfen den Menschen auf sich selbst zurück und trennen ihn letztlich von seiner Weltverbundenheit. Das kann zwar durchaus kathartische Folgen mit eigenem Trostpotential zeitigen, doch darauf lässt sich Wils nicht ein, weil er darin eine latent zynische Marginalisierung des Schmerzes sieht. Bei weiterer Steigerung oder längerer Dauer des Schmerzes tritt dann laut Wils ein „Ich-Verlust“ ein, da der Schmerz durch seine Permanenz letztlich das (Selbst-)Bewusstsein und damit den Lebenswillen aushöhlt.

Ähnlich und doch etwas anders sieht Wils die Trauer, bei der es um ein seelisches Leiden aufgrund eines schweren persönlichen Verlustes geht. Das Problem des Trostes besteht hier darin, dass der Tröstende – das heißt der vom Verlust selbst nicht betroffene Mensch – eben diese Trauer nicht selbst empfinden kann. Wils kritisiert denn auch die verschiedenen Ansätze des Trostes, wie sie landläufig gerne propagiert werden. Das Mitweinen im Sinne von „geteiltes Leid ist halbes Leid“ hält er für geradezu kontraproduktiv, weil es sich in die Trauer des Betroffenen einschleicht und sie sich sozusagen aneignet. Die trauernde Person werde das in den meisten Fällen intuitiv erfassen und dies als eine seelische Anbiederung auf ihre Kosten empfinden. Noch schlimmer sei die Marginalisierung mit Verweis auf Zeit, Raum und die Vergänglichkeit alles Lebenden. Damit schicke der so „Tröstende“ den trauernden Menschen und seinen – meist menschlichen – Verlust in die Bedeutungslosigkeit. Eine Variante dieser Art des Trostes sieht Wils in den Ausführungen einiger frühzeitlicher Philosophen – etwa Seneca -, die mit bestechender Logik die Sinnlosigkeit der Trauer nachweisen und diese damit scheinbar gegenstandslos werden lassen. Ein im Hier und Jetzt lebender und mit einem schweren Verlust konfrontierter Mensch benötige einfach die lindernde Funktion des Trostes und keine Belehrung. Schon hier deutet Wils die Gratwanderung des Trost spendenden Mitmenschen an, die leicht in einem Abgleiten in die erwähnten Abgründe einer bloßen Sentimentalität oder einer zynischen Abgeklärtheit enden kann.

Als Ansatzpunkt für einen echten Trost definiert Wils dann das „Leiden am Leiden“. Für ihn leidet jeder von einem schweren Verlust betroffener Mensch nicht nur an diesem selbst, sondern zusätzlich an eben diesem Leiden. Es tritt demnach ein „Meta-Leiden“ auf. Bei physischen Schmerzen kennt man dieses Leiden in Form von Übellaunigkeit und Abwehrverhalten, bei seelischen Schmerzen infolge eines Verlustes wird dieser jedoch von der Umwelt leicht mit dem eigentlichen Verlustschmerz gleichgesetzt. Wils sieht hier den Ansatz für einen echten Trost, weil der Tröstende dieses sekundäre Leiden sozusagen übernehmen kann, ohne sich in den Kern des ganz persönlichen Schmerzes hineinzudrängen. Die Trostwirkung beschreibt er als ein „Ummantelung des Leids“, etwa so, wie man eine Wunde verbindet, statt sie gleich mit Jod auszuwischen. Dieser Vergleich des Rezensenten mag zwar medizinisch kontraproduktiv sein, beschreibt aber die Wirkung der „Ummantelung“ recht gut.

Trost beruht laut Wils unter anderem auf einer alten „Lebensschuld“, die alle Menschen verbindet. Sie rührt aus alten Zeiten, in denen die Menschen für das gemeinsame Überleben in einem impliziten Schuldverhältnis aufeinander angewiesen waren. In der modernen Säkularzeit ist dieses Schuldverhältnis bis zur Unsichtbarkeit verdrängt worden, besteht jedoch für Wils prinzipiell weiter. Danach schuldet jeder Mensch dem Mitmenschen gewisse Dienste, darunter den Trost. Natürlich stellt Wils diese Forderung nicht als eine soziale Bringschuld einer quasi-juristischen Gesetzgebung dar, wie es eine sozial(istisch)e Partei tun könnte, sondern bindet sie ursprünglich an das Menschsein. Der seiner Ansicht nach überzogene Individualismus mit seiner nur einer abstrakten Gesellschaft geschuldeten Loyalitätspflicht stellt in dieser Hinsicht eine schwerwiegende Gefahr für die Trostfunktion und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft dar. Hier fordert er eine Besinnung auf die erwähnte Lebensschuld, wenn es um den gegenseitigen Trost geht. Dazu bemüht er eine Reihe von Denkern aus Vergangenheit und Gegenwart, die sich zu diesem Thema eingehend und treffend geäußert haben. Allein schon dieser Ausflug in die philosophische Trostlandschaft ist die Lektüre wert.

Am Ende des Buches geht er noch einmal auf die verschiedenen Quellen des Trostes ein, als da sind die Natur, die Dinge, die Musik und – als wichtigste Quelle – der Mensch. Hier lauert überall die Gefahr der Banalität, weil all diese vier Quellen in der entsprechenden Tröstungsliteratur mehr als genug auserzählt worden sind, von der „erhabenen“ Berglandschaft über den „rauschenden“ Wald bis hin zum „allumfassenden“ Meer. Wils umschifft diese Klippe der Banalität, indem er bei allen Quellen im Grundsätzlichen, Strukturellen bleibt. Bei den Dingen erwähnt er nur die Trostfunktion von Kleidung und Gebrauchsgegenständen Verstorbener, bei der Musik verzichtet er auf jegliches Beispiel („Ave Maria“!), weist aber deren tröstende Funktion aus ihrem ureigenem Wesen nach. Beim Menschen schließlich kommt er zurück auf die Kapitel davor, die letztlich alle von der zentralen Funktion des Menschen im Kontext des Trostes handeln, und zeigt noch einmal auf, wie ein Trost von Menschen für Menschen den Schmerz und das Leid lindern kann – wenn er uneigennützig und mit voller Zuwendung gespendet wird.

Dieses Buch hat das Potential, eine ganze Bibliothek herkömmlicher Trostliteratur zu ersetzen, wenn man sich seine Erkenntnisse tatsächlich zu Herzen nimmt.

Es ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 175 Seiten und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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