Mary Elise Sarotte: „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“

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Den im Titel genannten elliptischen Satz haben spätestens seit Russlands Überfall der Ukraine sowohl die russischen „Täter“ als auch ihre – mal ideologischen, mal naiven – Fürsprecher im Westen als Begründung für Russlands Aggression angeführt. Der Satz steht dabei für eine angeblich verbindliche Zusage des Westens im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, die alten Grenzen des Kalten Krieges zwischen NATO und Warschauer Pakt nicht nach Osten zu verschieben. Der Westen habe damit einen Vertrag gebrochen, und Russlands angebliche Aggression sei lediglich ein Notwehr-Akt.

Da die – tatsächlich energisch vorgetragene – Verneinung dieser Behauptung stets den Geschmack des „Leugnens“ nach dem Motto des „getroffenen Hundes“ in sich trägt und auch von einer bestimmten Fraktion im Westen (in Russland sowieso) so gesehen wird, hat sich die Harvard-Professorin Mary Elise Sarotte daran gemacht, die Dokumente der NATO- und USA-internen Diskussionen sowie der Verhandlungen mit allen Betroffenen im Detail zu sichten und die tatsächlichen Abläufe zu rekonstruieren. Dabei musste sie die entsprechenden Dokumente buchstäblich einfordern oder gar einklagen. Es liegt nahe, dass die Politik nicht jeden Gedanken oder Satz der so turbulenten wie brisanten Zeit zwischen 1990 und 2000 nicht öffentlich ausgebreitet sehen wollte. Nun jedoch liegt mit diesem Buch eine detaillierte Aufarbeitung vor, die sich liest wie ein spannender Kriminalroman.

Es beginnt mit dem Fall der Mauer und Helmut Kohls „fixer“ Idee der deutschen Wiedervereinigung, die er möglichst schnell umsetzen wollte, da er ahnte, dass es dafür nur ein kurzes Zeitfenster geben würde. Gorbatschow stand 1990 vor dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft und damit vor dem Zerfall der Union und suchte verzweifelt nach externen Geldmitteln, um diesen Prozess zu stoppen. Sarotte bringt dabei die nahtlose Zusammenarbeit zwischen George Bush sen. und Helmut Kohl auf den Punkt. Letzterer wollte – im Gegensatz zu Genscher – die Wiedervereinigung ohne irgendwelche Zugeständnisse an Gorbatschow, weil er dessen Schwäche als Chance sah. Bush wurde von eigenen Beratern wegen der ungewissen Zukunft des sowjetischen Atomwaffenarsenal zu Zugeständnissen an die SU gedrängt, doch er glaubte wie Kohl, dass der Westen seinen „Sieg“ im Kampf der Systeme durchaus dazu nutzen könne, das westliche System nach Osten auszudehnen. Das geschah natürlich nicht aus eigenem Antrieb, sondern in erster Linie aufgrund der geradezu flehentlichen Bitte der ehemaligen Ostblockländer, allen voran Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, in die NATO aufgenommen zu werden.

Sarotte schildert die sich international abspielenden Prozesse zwischen den ehemaligen Blöcken geradezu im Tagestakt. Ebenso wie in den USA, die hier eindeutig die Federführung übernahmen und die anderen NATO-Staaten mehr oder weniger auf dem Laufenden hielten, gab es auch in der sterbenden Sowjetunion große Widerstände gegen eine Ausdehnung der NATO, nur dass viele russische Politiker wegen hoher Fluktuation des politischen Personals und der katastrophalen sozioökonomischen Lage nicht immer auf der Höhe der Zeit waren und erst (zu) spät merkten, welche Entwicklungen sich abspielten. Sehr gut beschreibt Sarotte die wachsende Abneigung, ja fast schon den Hass weiter russischer Kreise gegenüber Gorbatschow, der als Totengräber eines Imperiums und damit auch als Schuldiger für den ökonomischen Verfall des Staates betrachtet wurde. Man erfährt auch von der individuellen Abneigung Jelzins gegenüber Gorbatschow, die letzten Endes zu einem demütigenden, durch Jelzin gnadenlos eingefädelten Abgang Gorbatschows als Generalsekretär der als aufgelöst erklärten Sowjetunion führte.

Jelzin übernahm als russischer Präsident die weiteren Verhandlungen mit dem Westen, doch auch hier wiederholten sich die Ereignisse. Große Teile der von der Bunderepublik an die SU gezahlten 75 Milliarden(!!) DM verschwanden in dunklen Kanälen, und Jelzin stand vor denselben sozioökonomischen Problemen. Bush-Nachfolger Clinton baute dennoch einen vertrauensvollen Kontakt zu Jelzin auf, entschied sich jedoch wie Bush, die Bitten der ehemaligen Ostblockstaaten nach NATO-Mitgliedschaft zu erhören. Sarotte verdeutlicht anhand vieler gegenläufiger Diskussionen in den US-Ministerien, heftiger Befürwortungen und Warnungen sowie immer wieder besänftigender Worte an Jelzin und seine Entourage, wie und wieso diese Entscheidungen zustande kamen. Dabei wird auch klar, dass der ursprüngliche Gedanke einer „Partnership for Peace“, die alle Länder einschließlich Russland umfassen und weniger feste Zusagen machen sollte, langsam aber stetig zugunsten einer konsequenten NATO-Erweiterung an Boden verlor. Dabei spielten natürlich auch innenpolitische Gründe in den USA – Wahlen, republikanische Wünsche und nicht zuletzt Clintons „Lewinsky-Affäre“ – eine nicht geringe Rolle.

Sarotte zeigt deutlich, dass sich die Hauptakteure in den USA, denn nur die spielten im Westen eine Rolle, die Sache nicht leicht machten. Dabei stand stets die Sorge über die Zukunft der sowjetischen Atomwaffen nach dem Zerfall der SU im Mittelpunkt. Argumente für Zugeständnisse an Russland fanden daher lange Zeit starke Beachtung. Dagegen standen die Folgen eines eventuellen „Vakuums“ in Europa, wenn man die ehemaligen Ostblockstaaten (außer Russland) nur als „halbe“ Mitglieder oder gar Anwärter behandeln würde. Nicht zuletzt die Tschetschenienkriege in den Neunzigern zeigten dann Russlands Unberechenbarkeit und neigten die Waagschale zur NATO-Erweiterung.

Die dritte Phase begann dann mit Jelzins Abdankung nach einer NATO-bedingten Abkühlung des anfangs sehr guten persönlichen Verhältnisses zu Clinton und Putins Ernennung zu seinem Nachfolger. Putin zeigte sich von Beginn an zurückhaltend bis unterkühlt und begann systematisch mit der Stabilisierung der russischen Einflusszone – sprich: Tschetschenien, Georgien und auch die Ukraine. Die – einseitig – alkoholselige Umarmungsfreundschaft zwischen russischem und US-Präsident hatte ein Ende, und das 21. Jahrhundert mit den heutigen politischen Verhältnissen nahm mit Putin seine heutige Gestalt an.

Sarotte schildert das alles mit professioneller Sachlichkeit und Betonung der bekannten Fakten. Eigene Bewertungen lässt sie erst am Ende einfließen. Aus ihrem Bericht ergibt sich eindeutig, dass der Westen nie eine schriftliche Zusage einer „Nicht-Erweiterung“ gemacht hat, wenn auch Gedanken in dieser Richtung in Gesprächen durchgespielt wurden. Dabei wird zwar klar, dass Russland diese Forderung immer wieder mehr oder weniger deutlich gestellt hatte, aber – außer einem theoretischen Einsatz von Atomwaffen – über keine Druckmittel verfügte. Außerdem überschattete der gigantische Geldbedarf Russlands nach der Auflösung der SU alle Verhandlungen, und politische Forderungen ließen sich seitens des Westens mit Geld leicht zum Schweigen bringen. Was dann auch geschah. Dass von diesem Geld nichts beim russischen Volk im Sinne von Nahrung und Infrastruktur landete, ist eine andere Geschichte. Das englische und Schweizer Finanzsystem haben davon profitiert.

Mary Elise Sarotte hat mit diesem Buch ein packendes Politprotokoll der neunziger Jahre vorgelegt, und ihre abschließende Bewertung räumt zwar ein, dass man die Dinge auch anders und auf eine Russland inkludierende Art hätte regeln können, aber sie lässt offen, ob eine „Partnerschaft“ mit Russland, die auf volle Augenhöhe mit den USA und der NATO hätte verzichten müssen, einem Russland unter Putin gereicht hätte.

Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 397 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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