Was Sprache nicht kann ……

Print Friendly, PDF & Email

Im Titel der Kammeroper „Pnima … ins Innere“ der Israelin Chaya Czernowin ergänzen die deutschen Worte das israelische, indem sie es übersetzen. In diesem Sinne ist der Titel selbstreferentiell und verweist damit subtil auf den Inhalt der Oper, denn hier beschäftigt sich eine jüdische Komponistin intensiv mit den – man könnte sagen tausendjährigen – Traumata der Juden, deren Hintergründe wir hier nicht erklären müssen.

Am Staatstheater Darmstadt trug sich Intendant Karsten Wiegand schon länger mit dem Gedanken, diese Oper zu inszenieren, und die Ereignisse am 7. Oktober 2023 haben wohl entscheidend dazu beigetragen, dieses Vorhaben kurzfristig in die Tat umzusetzen. Wiegand verzichtete in seiner Einführung in das Stück auf einen expliziten Hinweis auf diesen Hintergrund, aber für das Publikum lag er auf der Hand. Für die Premiere wählte man bewusst den 27. Januar, der mit der Befreiung des KZ Auschwitz DIE zentrale Bedeutung für die jüdische Geschichte und ihre Erinnerungskultur aufweist. Nun ist der 27. Januar mitnichten ein Freudentag, denn an diesem Tag wurden zwar eine gewisse Zahl von Juden vor dem Tod gerettet, aber das unsagbar Schreckliche, das mit dieser Befreiung offenbar wurde, verhindert jeder Art von Erleichterung oder gar Freude.

Ensemble beim einführenden Tanz

Chaya Czernowin geht es darum, die Traumata der Juden und ihren Umgang damit in eine künstlerische Form zu bringen. Da die im Holocaust traumatisierten Überlebenden sich weigerten, mit ihren Kindern und Enkeln über diese Zeit zu sprechen, oder es aus einer traumatischen Störung gar nicht konnten, bietet es sich an, diese Sprechstörung durch Musik dazustellen. Denn die weit verbreitete Erkenntnis, dass sich die emotionale Wirkung von – ernsthafter – Musik mit Sprache nicht ausdrücken lasse, lässt sich in die Hypothese umwandeln, dass man sprachlich nicht vermittelbare Emotionen durch Musik ausdrücken kann. Eben dies setzt Chaya Czernowin in ihrer Kammeroper konsequent um.

Intendant Wiegand hat als Regisseur dieser Inszenierung die Publikumstribüne auf die Hinterbühne verschoben, von wo die Zuschauer auf einen gähnend leeren Zuschauersaal blicken, eine Erinnerung an all die – etwa am 7. Oktober – umgebrachten Juden. Später wird die Statisterie als Zeichen der Hoffnung die Reihen zögerlich und bewusst jugendlich gekleidet wieder auffüllen, aber erst werden die Traumata anhand von drei allerdings nicht als durchgängige Handlung misszuverstehende Szenen durchgespielt.

Julia Alsdorf in den Erinnerungen

Die eigentliche Eröffnung besteht jedoch aus einer Tanzveranstaltung junger Leute, die in gestellten Figuren Tanzfiguren nachahmen. Dabei verzichtet Wiegand auf jegliche Musik im herkömmlichen Sinn – schon gar nicht Pop-Musik! – sondern inszeniert diese Szene nur als minutenlanges Tanztheater in Zeitlupe. Unschwer erkennt man den Verweis auf das Rave-Festival nahe der Gaza-Grenze am 7. Oktober 2023.

Danach betritt bei sich öffnendem Blick auf die leeren Zuschauerränge, eine Frau – die Tänzerin und Choreografin Wen Hui – mit leerem Blick die Bühne und begegnet ihren Erinnerungen in Gestalt einer jungen Frau, die sich unter einem vom Bühnenhimmel absenkenden und auf dem Bühnenboden ausbreitenden Vorhang hervorarbeitet. Anschließend versucht sie, auf dem am Boden liegenden Vorhang Fuß zu fassen, doch ihre Erinnerungen ziehen ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, bis sie im Vorhang verschwindet .Dieses Bild verweist auf die Erinnerungen, derer man nicht Herr wird und in denen man sich verlieren kann. Dazu spielt das im Graben unsichtbare Orchester eine Partitur einzelner Klänge, die brodelnde oder grell aufschießende Erinnerungen musikalisch umschreiben, ohne deswegen irgendeine ganzheitlich künstlerische Form zu gewinnen. Chaya Czernowin geht es bei dieser „Musik“ nur um die Wiedergabe chaotischer und nicht beherrschbarer Traumata. Schon hier erhält der Zuschauer einen Eindruck von den (Un-)Tiefen dieser Verstörung.

Der Vortrag mit Szymon Chojnacki, David Pichlmaier und Tomas Möwes

In der zweiten Szene soll ein älterer Mann (Tomas Möwes) einen Vortrag vor einem imaginären Publikum im Saal halten. Seine beiden Assistenten (David Pichlmaier und Szymon Chojnacki) stellen ihm ein Pult mit Mikrofon bereit und reichen ihm sein Manuskript, er jedoch bricht am Pult zusammen und sieht sich nicht imstande, den Vortrag zu halten. Instrumentale und vokale Einwürfen des Orchesters und der drei Protagonisten untermalen die seelischen Qualen der Erinnerung, und wenn der Alte am Schluss ein kleines Mädchen vor sich sieht – offensichtlich wieder eine Erinnerung – bricht er seelisch zusammen.

In der dritten Szene findet ein großes Familientreffen an einer langen Tafel statt. Wieder ist der Alte gebeugt von traumatischen Erinnerungen, während die jungen Männer (eben noch die Assistenten des Vortragenden) sich eher dem Essen und Trinken widmen statt dem Alten und die Versuche der Frauen, ihn in die Gegenwart zurückzuholen, trotz kurzer emotionaler Erholungsphasen des Seniors ebenfalls keinen konkreten Erfolg versprechen. Die Musik untermalt dieses Familienfest mit orchestralen wie einzelnen instrumentalen Klängen, während die Protagonisten am Tisch sich mit rudimentären Lauten der Klage und der Aufmunterung äußern. Am Ende bleiben alle mit ihren traumatischen Erinnerungen allein und die Frauen verlieren sich ratlos im großen Zuschauerraum

Familienfest mit Ensemble

Die Szene geht nahtlos über in den letzten Teil, in dem alle auf ihre Handys starren und zunehmend mimisch und stimmlich wortloses Entsetzen äußern. Man zeigt sich gegenseitig die Inhalte auf den Telefonen, und es wird schnell klar, dass hier die Ereignisse des 7. Oktober – und eventuell zukünftige Terrorakte – angesprochen werden. Am Ende ziehen sich die jungen Männer Uniformjacken an und verlassen mit olivgrünen Soldatentaschen und gesenkten Köpfen die Bühne. Das kleine Mädchen irrt verloren über die Bühne.

Chaya Czernowin hat mit dieser Kammeroper ein bewegendes Stück über die bedrückenden Erfahrungen der Juden in den letzten zwei Jahrtausenden verfasst und ist dabei nicht der Versuchung erlegen, einzelne Schuldige wie die katholische Kirche oder – als Extrem – den Nationalsozialismus zu benennen. Es ging ihr nicht um eine Anklage sondern um eine Aufarbeitung der traumatischen Folgen dieser Geschichte einer Gemeinschaft. Natürlich ist die Benennung dieser Traumata selbst wieder eine implizite Anklage gegen die dafür Verantwortlichen, doch die wird nicht plakativ konkretisiert sondern als unbegreifliches menschliches Versagen in den Raum gestellt. Karsten Wiegand und das Ensemble haben das Stück auf bewegende Weise ohne jedes falsche moralische Pathos – das diesem Grenzfall nie genügen könnte – inszeniert und es geschafft, dem Trauma der jüngeren jüdischen Geschichte gerade durch die sprachlose, punktuell verzweifelt hilflos wirkende Darstellung einen tief berührenden Ausdruck zu verleihen.

Das Publikum wartete nach den letzten Tönen mehrere lange Sekunden, bis der Beifall einsetzte. Das interpretieren wir nicht als Gleichgültigkeit, sondern als intuitive Scheu vor dem „begeisterten“ Beifall.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar